Das Schiff aus Stein
die Höhe.
»Oh, nein! Wir liegen falsch!« No deutete ebenfalls in den Himmel, an dessen oberem Rand sich ein heller Streifen zu zeigen begann. Die Flut schien sich zurückzuziehen. »Los, Leute! Welche Mauern gab es denn noch?«
»Die Klagemauer in Israel!«, rief Anselm. »Sie ist auch sehr hoch.«
»Aber sie liegt nicht am Meer«, widersprach Bent. »Es muss eine Mauer am Meer sein!«
Anselm fuhr in die Höhe. »Die Stadtmauer von Dubrovnik. Sie stammt aus dem Mittelalter. Bent, das haben wir doch bei Meister Zachus in Historische Werkzeuge und Instrumente gehabt. Da haben wir sogar mal ein Stück Mauer nachgebaut. Dubrovnik!«, rief er laut. »Ist das hier Dubrovnik?«
Nichts rührte sich. Nur der blasse Streifen am Himmel wurde jetzt rasch größer.
»Bent!«, keuchte Anselm. »Da war doch noch so eine Mauer?! Die sowieso Landmauer …«
Bent kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Die Theodosianische Landmauer«, stieß er dann hervor. »Rund um Konstantinopel. Sie gilt als eine der bestdurchdachten Befestigungsanlagen in der Geschichte der Kriegstechnik! Und Konstantinopel liegt am Meer!«
»Konstantinopel!«, rief Anselm laut. »Ist das hier Konstantinopel?!« Doch die Flut veränderte sich nicht. Stattdessen tauchte am Rand des Himmels schwach der Rochusturm auf.
»Aber es ist eine Stadt am Meer!«, rief Rufus verzweifelt. »Wir sind doch auf einem Felsen am Meer!«
Im selben Moment war der Himmel wieder tiefschwarz und wolkenverhangen. Doch anstatt vor der Mauer standen die Lehrlinge in einer dunklen Gasse zwischen mehrstöckigen, gemauerten Häusern. Der Geruch nach Salz und Meer war schwächer geworden.
Stattdessen lag ein seltsamer Gestank in der Luft.
»Ihh!«, Filine hielt sich die Nase zu. »Das riecht ja wie tote Maus! Was ist das denn für ein ekelhafter Gestank?«
Auch No und Oliver verzogen das Gesicht.
»Das riecht wie in einem Klo oder so«, quetschte No hervor. »Was hast du denn eben so Besonderes gesagt, Rufus, dass die Flut uns hierhergeführt hat? Das war doch nichts mit der Mauer.«
»Ich weiß es nicht«, gab Rufus mit angehaltenem Atem zu. »Ich habe gesagt: ›Felsen am Meer‹. Vielleicht hat das hier irgendeine Bedeutung? Vielleicht nennt man diese Stadt so?«
Er sah sich um. Die Straße, in der sie standen, war eng und dunkel, und es war kein Mensch zu sehen. Überall in der Luft hing derselbe penetrante Geruch.
»Ist doch egal«, murmelte Bent. »Aber was ist denn das für eine Stadt? Man sieht echt überhaupt nichts.« Er lief ein Stück die dunkle Straße entlang und auf eine Kurve zu, an der die Häuser einen leichten Bogen beschrieben.
»Bent, bleib hier!«, sagte Filine. »Wir dürfen uns nicht zu weit voneinander entfernen.«
»Dann kommt mit. Sieht so aus, als ob da vorne Licht wäre.« Der hagere Junge tänzelte unruhig auf der Stelle.
Rufus lief zu ihm. Als er die Kurve erreichte, konnte auch er einen schwachen Lichtschimmer ausmachen, der unstet flackerte.
»Der Weg sieht gut aus«, nickte er Bent zu und winkte den anderen.
»Na gut, alles ist besser, als in dem Mief hier stehen zu bleiben!« No kam ebenfalls heran.
»Okay!« Bent ging weiter.
Jetzt kamen auch Anselm, Oliver und Filine. Der Boden unter ihnen schien aus Stein zu sein. Er verlief ziemlich eben und wirkte wie gemauert.
»Muss eine ziemlich große Stadt sein«, meinte Anselm. »Das sind ganz schön hohe Häuser.«
Oliver trat an die nächste Hauswand und betastete sie. Er zeigte mit den Händen die Größe des Steins, die er fühlen konnte.
»Die Steine sind ziemliche Kawenzmänner.« No sah sich um. »Das ist eine sehr alte Stadt! Je größer die Steine, desto älter die Bauwerke.«
»Kommt schon!«, rief Bent. »Da vorne ist eine größere Straße.«
Die anderen folgten ihm und kamen an eine enge Kreuzung. Die quer laufende Straße war breiter als die Gasse, aus der sie kamen. Aus vielen Tür- und Fensteröffnungen der hohen Häuser fiel Feuerschein auf die Straße. Es war offensichtlich, dass in den Wohnungen dahinter offenes Feuer, Kerzen und Öllampen brannten. Gleichzeitig aber wirkten die mehrstöckigen Gebäude wie Häuser einer modernen Metropole.
Rufus sah Filine an. »Hast du schon mal etwas über so hohe und alte Häuser gelesen oder gehört?«
Filine schüttelte den Kopf. Sie stammte als 95. Nachfahrin der Pharaonin Anchetcheprure direkt von den ägyptischen Herrschern ab, was allerdings ein Geheimnis zwischen ihr, Rufus und No war. Deswegen kannte sie sich in der
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