Das Schiff der Hoffnung
verstehen, daß du hin- und hergerissen wirst. Aber du sollst auch wissen, daß ich dich sehr liebe. Dieser Liebe wegen könnte ich auch deine Frau pflegen, wenn es nötig ist. Du sollst das Unglück nicht so hart empfinden, ich bin ja auch noch bei dir.« Sie lehnte sich an Karl und legte den Arm um seine Schulter.
Haußmann atmete schneller. Die Wärme von Marions Körper, ihre Schönheit, der Duft ihres Haares, ihre Anschmiegsamkeit, die Gewißheit, wirklich nicht mehr in schweren kommenden Stunden allein zu sein – das alles zusammen war ein wirklich wundervolles Gefühl. Ein Gefühl, das sich mit Schauder mischte.
»Daß auch alles so kommen mußte«, sagte er heiser und zog Marion an sich. »Ich danke dir, Marion. Bisher habe ich dich für ein kleines Aas gehalten.«
»Mein dummes, brummendes Bärchen!« flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr.
Dann küßten sie sich.
Aber von Karls Seite war es mehr Dankbarkeit.
Am Fenster des dunklen Zimmers trat Erika langsam zurück. Sie hatte alles beobachtet, ohne die Worte verstehen zu können. Doch es genügte ihr, daß Karl Marion küßte.
Verloren, dachte sie. Ich habe ihn endgültig verloren. Jetzt habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Nun ist meine Welt dunkel und leer. Für mich ist hier kein Platz mehr.
Sie ging mit einem Glas zum Wasserhahn, ließ es halb volllaufen, ging zurück zum Bett und öffnete ein Röhrchen mit Tabletten, das ihr Dr. Tezza nach den Untersuchungen gegeben hatte. »Wenn Sie starke Schmerzen haben … zwei Stück, mehr nicht!« hatte er gesagt. »Sie werden danach schlafen wie ein Murmeltier. Ich habe das Präparat selbst entwickelt. Es wirkt auch krampflösend.«
Zwanzig Tabletten waren in dem Glasröhrchen.
Erika schüttete alle zwanzig in das Wasserglas und rührte mit einem Strohhalm so lange herum, bis sie sich aufgelöst hatten. Das Wasser war milchig, undurchsichtig geworden. Es roch stark nach Kampfer.
Einen Augenblick lang zögerte Erika. Sie dachte an ihre Kinder. Aber die waren erwachsen und lebten ihr eigenes Leben. Noch einmal trat sie ans Fenster. Über Capistrello hing ein herrlicher Mond am fahlen Nachthimmel. Karl und Marion waren nicht mehr im Garten. Irgendwo, in der Dunkelheit, sind sie jetzt, und küssen sich oder …
Erika spann den grausamen Gedanken nicht weiter. Sie hob das Glas an die zitternden Lippen und trank. Vier tiefe Schlucke … und es war geschehen. Es gab kein Zurück mehr.
Erika stellte das Glas ab, überlegte, spülte es dann aus und legte sich ins Bett. Noch spürte sie nichts, im Gegenteil, ihr Herz schlug rasend.
So ist also mein Ende, dachte sie. Das ist mir von meinem Leben übriggeblieben: Ein selbstgewählter Tod in einem spärlichen Gastzimmer einer Pension in Avezzano. So klein und elend kann eine glückliche Welt werden.
Dann wurde sie müde und schlief ein.
Auf leisen Sohlen, in den Samtschuhen des Traumes, kam der Tod zu ihr …
Karl Haußmann saß in der Gaststube und trank Wein. Einen goldroten, süßen, schweren Wein. Er kannte ihn nicht und ahnte nicht seine Tücken. Er merkte nur, wie glatt der Wein ins Blut ging und seine Aufregung glättete. Und das brauchte er. Er hatte in ein paar Minuten erlebt, wie der ganze Plan seiner Italienreise zusammenbrach. Frank Hellberg zeigte seine Sympathie zu Claudia so deutlich, daß Marion mit verbissenem Gesicht auf ihr Zimmer ging. Kurz darauf zogen sich auch Hellberg und Claudia zurück, und Karl blieb allein mit seinem Wein und seinem vielschichtigen Kummer.
Nach Bari, dachte er und sah den goldroten Wein. Zum ›Schiff der Hoffnung‹. Ist das nicht auch wieder ein Trugbild, eine Illusion, ein Strohhalm, der schnell bricht? Ein Wundermittel gegen Krebs. Gibt es denn noch Wunder? Soll man Erika diese anstrengende Fahrt überhaupt noch zumuten? Wäre es nicht besser, gleich zurück nach Deutschland zu fahren? War dieser Dr. Tezza nicht Warnung genug?
Fragen über Fragen. Und dann die persönlichen Probleme. Die offensichtlich echte Liebe Marions. Das Mädchen Claudia. Die kommende Auseinandersetzung zwischen Marion und Hellberg. Ein Gebirge von Problemen.
Haußmann sah nicht auf die Uhr, als er aufstand, aber er spürte, wie er schwankte und wie der süße, schwere Wein wie Blei in sein Gehirn drang. Mühsam tappte er die Treppe hinauf, suchte nach dem Zimmerschlüssel, den ihm Erika mitgegeben hatte, fand nach längerem Stochern das Schlüsselloch, ging hinein und zog sich aus. Er warf noch einen Blick auf Erika. Sie lag auf der
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