Das Schiff der Hoffnung
den er in einem Kiosk am Bahnhof gekauft hatte. Fein aufgereiht stand da eine lange Liste von Hotels und Pensionen.
Hotel Nazioni. Portente. Palace. Europa. Miramare. Moderno. Corona. Continental. Excelsior. Adria …
»Irgendwo bekommen wir Betten!« sagte Haußmann siegessicher. »Es ist nur eine Frage des Geldes.«
Um ein Uhr nachts standen sie wieder auf der Piazza Garibaldi vor ihrem nun entplombten Wagen. Haußmanns hatten ein winziges Zimmer am Fischmarkt, an der Molo S. Nicola, bekommen. Claudia und Marion wohnten in einem Zimmer hinter dem Bahnhof, in der Via Re David. Für Frank Hellberg hatte sich kein Bett auftreiben lassen.
Nach der Abfahrt des Fährschiffes waren die Straßensperren gelockert worden, ein Strom neuer Wagen hatte sich nach Bari ergossen. Ein erschütterndes Bild bot sich auf der Piazza Christ. Colombo. Dort parkte ein Kombiwagen aus Padua. In ihm lag auf einer Bahre eine ausgezehrte, gerippeähnliche Frau mit schlohweißen Haaren. Der Tod war schon in ihren großen, fiebrigen Augen. Die ganze Familie saß um den Wagen herum, ein Wall von Leibern, der die Sterbende schützte. Als die Polizei kam, war sie machtlos.
Der Chef der Familie trat einfach vor und sagte so laut, daß es alle hörten: »Wir haben unter dem Auto zwei Ladungen Sprengstoff. Wenn ihr uns wegjagt, sprengen wir uns alle in die Luft. Wir müssen nach Sarajewo! Seht ihr denn nicht, daß Mama stirbt, wenn sie nicht die Wunderpille bekommt?«
Und die Polizei zog ab.
Vor so viel Elend und Glauben versagt selbst das Gesetz.
»Ich schlafe im Wagen«, sagte Hellberg, als alle Hoffnung auf ein Bett für ihn sinnlos wurde. »Ich werde dort herrlich schlafen wie im Palace-Hotel nach den Nächten in der Zelle.«
Am nächsten Morgen trafen sie sich alle wieder auf der Piazza Garibaldi. Hellberg hatte sich in einem nahen Café gewaschen und rasiert. Er hatte eine stürmische Nacht hinter sich, denn alle zwei Stunden wurde er von der Polizeistreife geweckt, die ihm sagte, daß er auf der Straße nicht übernachten dürfe. Und jedesmal sagte Hellberg seinen gleichen Spruch: »Es ist nicht meine Schuld, sondern die des Capitanos. Er hat mich als Mörder verhaftet, und dadurch habe ich mein Zimmer verloren. Geht und fragt ihn!«
Gegen Morgen konnte er endlich schlafen. Es hatte sich auf den Revieren herumgesprochen, welch ein seltener Vogel in einem deutschen Wagen im Garibaldi-Park lag. Man ließ Hellberg in Ruhe.
»Also los!« sagte Haußmann tatenfreudig. »Wir haben gut gefrühstückt, die Sonne scheint … stürmen wir die Fahrkartenausgabe!«
Es klang gewollt lustig, aber hinter dem saloppen Klang schwang die Tragik. In der vergangenen Nacht hatten sich Karl und Erika ausgesprochen. Es war wie eine Erlösung gewesen, ja, fast wie eine neue Ehe, und es gab Erika neuen Mut und eine ungeahnte Kraft.
»Jetzt will ich selbst nach Sarajewo«, sagte sie in dieser Nacht. »Ehrlich, Karli – ich habe nie an diese Pillen geglaubt. Aber nun setze ich alle Hoffnung darauf. Es geht ja nicht nur um mich, sondern auch um dich. Um unser gemeinsames Glück. Es soll alles wieder so werden wie früher.«
»Es ist schon so, Rika«, sagte Karl und kam sich ganz klein und schäbig vor. »Man kann sich doch mal verirren … das ist doch menschlich …«
Frank Hellberg sah die breite Straße des heiligen Franz v. Assisi hinunter, die zu dem alten Castello Svevo, dem wehrhaften Mittelpunkt des alten Bari, führte. Dahinter, vom Corso Trieste an, begann, der Weg der Leiden. Hier hatte die Polizei hohe Eisengitter errichtet und eine Wachbaracke aufgeschlagen. Nur wer einen gültigen Paß hatte, genügend Geld und eine Fahrkarte nach Dubrovnik oder Bar in Jugoslawien, wurde in den inneren Hafenbereich hineingelassen. Erschütternde Szenen hatten sich schon an diesem Gitter abgespielt. Ende November, als die ersten Nachrichten von der Wunderdroge HTS um die Welt flogen, erschoß sich ein Mann an diesem Gitter, weil ihn die Polizisten nicht durchließen zum Fährschiff nach Bar. Er hatte vergessen, seinen Paß zu verlängern. Er war zehn Tage vorher abgelaufen.
»Was machen wir mit Claudia?« fragte Hellberg stockend.
»Sie fährt natürlich mit uns«, rief Karl.
»Ohne Paß kommt sie nicht zum Schiff. Und um einen neuen Paß zu bekommen, muß sie erst nach Hause. Nur die Heimatbehörde stellt ihn aus. Sie kann ihn auch hier beantragen, aber bei dem italienischen Tempo dauert das mindestens 6-8 Wochen, wenn nicht noch länger. So lange dauert's
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