Das Schiff der Hoffnung
Stunde. Sie waren nicht mehr zu heilen, jeder sah es, aber sie klammerten sich mit einer erschütternden Kraft an den Glauben, in Sarajewo würde die Wunderdroge HTS sie von den Bahren lösen und sie das Gehen wieder lehren.
Erika Haußmann hatte die große, nervliche Belastung der letzten Stunde überstanden. Die Tür hatte man mit Brettern notdürftig abgedichtet, vor das zerschossene Bullauge hatte man eine Pappscheibe genagelt. Nun war es dunkel im Zimmer, und man mußte den ganzen Tag über das Licht brennen lassen.
Karl Haußmann hatte sich gewaschen, und auch Erika hatte sich umgezogen und ein neues Kleid genommen, als es an die Bretter der zerschlagenen Tür klopfte. Haußmann öffnete sie einen Spalt und sah draußen den jungen Engländer von nebenan stehen, den Begleiter der lebenden Mumie, des Greises, der nicht sterben konnte und wollte und dessen Herz stärker war als sein übriger Körper.
»Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte er in einem fließenden, fast akzentfreien Deutsch, wie man es auf englischen Colleges lernt, »wenn ich Sie trotz der vergangenen Ereignisse auch noch belästige, aber mein Onkel, Lord James William Rockpourth, möchte mit Ihnen sprechen. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit übrig hätten … mein Onkel wünscht die Unterhaltung, und wenn Sie meinen Onkel kennen würden, sähen Sie ein, daß alle Gegenargumente vergeudete Zeit sind. Ist es Ihnen möglich, Sir?«
»Aber ja … ja …«, sagte Karl Haußmann verwirrt. »Ich weiß nicht … Was soll ich … Ihr Onkel … Lord Rock …« Er dachte an den Mann auf der Trage, das Gesicht, ein pergamentüberzogener Totenschädel.
»Mein Onkel ist aus seiner Agonie erwacht. Das geht seit zwei Monaten so. Soviel ich hören konnte, geht es ihm um sein Testament. Um einen Letzten Willen … Er hat bisher genau siebzehn Letzte Willen ausgedrückt.« Der elegante, junge Engländer lächelte verzeihend. »Wenn Sie es möglich machen könnten, Sir.«
»Natürlich. Ja.« Karl Haußmann zog seine Jacke an und kontrollierte noch einmal den Sitz seiner Krawatte. »Ich komme selbstverständlich.«
»Ich gehe mit«, sagte Erika hinter Karl. »Ich habe Angst davor, noch einmal allein zu sein …«
»Bitte!« Der junge Engländer trat höflich zur Seite. »Mein Onkel ist von dem Schuß durch das Fenster aus der Agonie erwacht. Er hat wie ein heilender Schock gewirkt. Er wird sich freuen, Sie kennenzulernen, Mrs. Haußmann.«
Karl Haußmann nickte verwirrt. Er faßte Erika unter, und sie gingen hinüber zur Nachbarkabine.
Als der junge Engländer die Klinke herunterdrücken wollte, flog die Tür von innen auf, und Dr. Mihailovic stürzte in den Gang. Er hatte eine noch volle Injektionsspritze in der Hand und war betrunken. Aus der Kabine tönte die fluchende Greisenstimme des lebenden Toten.
»Umbringen wollen Sie mich!« schrie der alte Engländer. »Aber ich lebe! Ha! Ich lebe weiter! Und ich werde in Sarajewo die Pillen schlucken, pfundweise, jawohl.«
Dr. Mihailovic sah Haußmann, den Neffen des Tobenden und Erika aus wäßrigen Augen an. Sein Mund zitterte, als wolle er weinen. Dann zuckte er mit den Schultern, steckte die Spritze einfach in seine Jackentasche und rannte weiter, hinauf an Deck.
Der junge Engländer lächelte mokant.
»Sie sehen, Sir, wie munter mein Onkel ist. Darf ich bitten einzutreten!«
Lord James William Rockpourth saß in seinem Bett, gestützt von einem Berg zerknüllter Kissen. Sein Totenschädel mit der pergamentenen Haut saß auf einem erschreckend dünnen, faltigen Hals. Darunter begann ein dicker Morgenmantel, der den schon mumienähnlichen Körper ganz einhüllte. Der Lord winkte mit beiden Händen, als er Haußmann und Erika sah, und zeigte auf zwei Sessel, die neben dem Bett standen.
»Kommen Sie bitte näher«, sagte er mit dem gleichen, gepflegten Deutsch, das auch sein Neffe sprach. »Und du gehst hinaus, Robert.«
»Onkel James …«
»Hinaus« brüllte der Greis.
Robert hob die Schultern und sah Haußmann vielsagend an. Er wandte sich ab, aber an der Tür blieb er noch stehen.
»Ich darf dich daran erinnern, Onkel James, daß die Herrschaften zu dem gleichen Zweck auf dem Schiff wie …«
»Hinaus!« schrie Lord Rockpourth und wedelte mit den Skeletthänden.
»Ich warte vor der Tür«, sagte der Neffe Robert leise beim Hinausgehen, »es kann sein, daß er in fünf Minuten wieder in Agonie fällt. Rufen Sie mich dann bitte, Sir.«
»Natürlich, natürlich …«, stotterte Haußmann verwirrt. Dann
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