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Das Schiff - Roman

Das Schiff - Roman

Titel: Das Schiff - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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darin bestehen, die Zeugnisse vom Leben auf der Erde zu beschützen. Meine Aufgabe besteht darin, meine Liebste bei Laune zu halten und den künftigen Siedlern Wissen über kulturelles Leben und kulturelle Strukturen zu vermitteln und ein bestimmtes Sozialverhalten mit ihnen einzuüben. In gewisser Hinsicht sind wir zwei Seiten einer Medaille: Während sie irdisches Leben zu den Sternen befördert, werde ich Geistiges – die Geschichte und das Denken der Menschheit – bewahren und weitergeben.

    Als meine Freundin aus dem Dunkel auftaucht und sich neben mich auf den Baumstamm setzt, drücke ich ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Da bist du ja wieder.«
    »Sie sagten ihm, ich sei noch hier …«, zitiert sie ein Gedicht aus einem unserer Lieblingsbücher. Ich habe es ihr im Ausbildungszentrum beigebracht, wo unsere Liebe begann. »Werden wir je herausbekommen, was das eigentlich bedeuten soll?«
    »Es ist Nonsense-Lyrik«, erwidere ich. »Und wird es immer sein und bleiben.«
    »Und du schimpfst dich Lehrer !« Sie hebt die Hand, um den vollständigen Vers in die Luft zu malen.
    »Sie sagten ihm, ich sei noch hier
(Ihr wisst ja, das trifft zu) –
Wenn sie sich nun drauf kaprizier’,
Sagt sie, was machst dann du?«
    Auf diesem Baumstamm, in dieser friedvollen Stille, bin ich so glücklich, so zufrieden, so erfüllt von allem ringsum wie nie zuvor in meinem Leben. Ich bewundere meine Freundin ebenso sehr, wie ich sie liebe. Wir spielen oft mit Gedichten und Wörtern, aber mit dem, was sie tut, darf sie nicht herumspielen, denn es ist das Leben selbst. Als Chefbiologin wird meine Freundin dafür sorgen, dass die Erde auf dem Schiff weiterlebt. Ich bin stolz auf sie. Meine Arbeit – unsere Arbeit – ist Teil der größten Anstrengung in der ganzen menschlichen Geschichte. Mittlerweile haben wir
kleine und große Städte besucht, Wälder, Dschungel und Wüsten durchquert. Haben uns mit Schulkindern und Bauern, mit Wissenschaftlern und wichtigen Persönlichkeiten getroffen. Wir sind die Auserwählten. Wir sind berühmt.
    »Erkennst du noch immer keinen Sinn in diesen Zeilen? «, frotzelt sie.
    »Nein, tut mir leid.« Also fährt sie fort:
    »Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei,
Und ihr gabt uns drei Stück;
Doch all das ist jetzt einerlei,
Du hast sie ja zurück.«
    Ich löse sie mit dem nächsten Vers ab:
    »Wenn demnach ich oder auch sie
Da mit hineingeraten,
Dann riecht er sicher irgendwie
Auch seinerseits den Braten.«
    »Wunderbar«, sagt sie, schlingt einen Arm um mich und umarmt mich fest in der Kühle des Abends. »Sollten wir da draußen irgendwie verlorengehen, werden wir einander an diesen Zeilen wiedererkennen. Das Gedicht ist unser geheimer Code.«
    »Wir werden einander nicht verlieren«, erwidere ich.
    »Nein, aber trotzdem …« Und sie zitiert die nächsten beiden Verse:
    »Bevor sie so verschroben war,
Da dacht’ ich (ich gesteh’s),
Du seist dabei die Hauptgefahr
Für ihn und uns und es.
     
    Sie war darauf besonders scharf,
Doch das behalt für dich,
Weil keiner davon wissen darf
Als höchstens du und ich.«
    »Du hast den ersten Vers vergessen«, werfe ich ein.
    »Der ist doch gar nicht wichtig. Das hier reicht, damit du mich überall findest.«
    Ich weiß selbst nicht warum, aber es juckt mich, auch die ursprünglichen Zeilen von William Mees Gedicht »Alice Gray« zu zitieren, die Lewis Carroll im ersten Vers seines Nonsense-Gedichts – enthalten in »Alice im Wunderland« – auf so rätselhafte Weise parodiert hat. Bei Mee heißt es:
    »Sie ist, wie ich’s mir ausgemalt,
umkränzt von göttlich’ Schein.
Doch, ach, ihr Herz ist schon verschenkt –
Wird niemals meines sein.«
    Sie verzieht das Gesicht. » Göttlich’ Schein – auch das noch, du lieber Himmel! Wieso musst du nur immer und überall den Oberlehrer herauskehren!«
    Unsere Liebesgeschichte gilt als höchst romantisch, vielleicht sogar als so romantisch wie keine andere je
zuvor: Schließlich werden wir als Liebende zu den Sternen fliegen, und unsere Liebe wird auf Jahrzehnte eingefroren sein, bis sie neu erwacht. Wir sind von unserer Bestimmung erfüllt und gut darauf vorbereitet, hegen ausschließlich positive Gefühle dafür, und zwar für jede Einzelheit unserer Mission.
    Ich kann mich nicht aus dieser Vision des großen Aufbruchs lösen, will es auch gar nicht. Wir sind startbereit, müssen uns nur noch von unserer alten Welt verabschieden.
    Der Wald beobachtet uns die ganze Zeit. Zwar kann ich die

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