Das Schiff - Roman
Augen all der Tiere, die wissen, dass wir hier sind, im Dunkel nicht ausmachen, aber diese Augen sind die der Erde , und bald werden wir weit fort sein, und man wird uns nie wiedersehen – bis wir eine neue Erde geschaffen haben, die um einen anderen Stern kreist, endlos weit von der alten Erde entfernt.
Koste es, was es wolle.
Als sie so neben mir sitzt, müde von der Wanderung, wirkt sie mit ihrem kurzen Bubikopf, dem offenen, direkten Blick der tiefblauen Augen und dem breiten, leicht ironischen Lächeln überaus jung und verletzlich. Immer wieder habe ich ihre tiefe Anteilnahme an mir als besondere Auszeichnung empfunden; sowohl in wissenschaftlichen als auch in emotionalen Dingen achtet sie auf jede Einzelheit. Anteil nimmt sie auch an meinen Eltern, die jetzt auf immer und ewig von ihrem einzigen Sohn Abschied nehmen müssen. Ihre Eltern sind schon seit Jahren tot, und das motiviert sie noch stärker, der Nachwelt etwas zu übergeben und eine
Verbindung von der Vergangenheit in die Zukunft zu schlagen.
Ihre Familie ist die ganze Erde.
An diesem Ort, mitten im Wald, schenkt sie mir ein kleines wunderschönes Buch – ein in Kunstleder eingebundenes Notiz- oder Tagebuch. Auch das cremefarbene Papier ist wunderschön. »Schreib alles darin auf«, sagt sie dabei. »Und wenn du dieses Gedicht entschlüsselt hast, schreib auch das auf und verrate mir dann, was es bedeutet.«
Koste es, was es wolle.
Natürlich bin ich mir auch ihres Körpers bewusst und stelle ihn mir unter ihrem Wintermantel vor. Ich weiß noch, wie ihre Schenkel und Schultern geglänzt haben, als wir fast nackt in den warmen Wellen vor dem Korallenstrand eines Atolls in der Südsee herumtollten. Erinnere mich daran, wie wir bei einer sanften, warmen Brise unter rauschenden Palmen miteinander geschlafen haben und unzählige Sterne am Himmel funkelten. Danach sprachen wir leise und halb im Schlaf darüber, dass wir Kinder haben wollten. Sie sagte, sie wünsche sich Töchter, denn Töchter könnten ihre Mutter besser verstehen als Söhne. Zugleich lacht sie über sich selbst und räumt ein, dass das albern ist. Auch Söhne seien wunderbar, aber sie habe sich nun mal auf Töchter versteift.
Mir schwindelt beim Gedanken daran, wie viel Macht diese Frau in den Händen halten wird. Bei unserer Ankunft in der neuen Welt wird sie nicht nur die Hüterin der alten Erde sein, sondern auch die Mutter einer neuen
Erde. Und ich werde an ihrer Seite sein, sie vor allen Gefahren beschützen und zu ihrem Erfolg beitragen …
Koste es, was es wolle.
Plötzlich fallen mir die geheimen Seiten des Katalogs wieder ein.
Möglich, dass dort schon andere wohnen. Einheimische Lebensformen. Und bis dahin ist uns vielleicht der Treibstoff ausgegangen, so dass wir nirgendwo anders mehr hinkönnen. Vielleicht wollen uns die Einheimischen nicht bei sich haben und bringen uns nur Feindseligkeit entgegen. Es kann sogar sein, dass sie uns zu töten versuchen. Nicht nur mich, sondern auch die Samen und das Gedächtnis der Erde. Und was machen wir dann, Geliebte?
ICH BLINZELE, ÖFFNE DIE AUGEN und stöhne auf. All diese Emotionen liegen meiner Liebe zugrunde – tief verborgen, wie die Monster, die wir gesehen haben –, um erneut zutage zu treten, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist.
Und jetzt ist dieser Zeitpunkt da.
Mutter beobachtet mich mit hochgezogenen Brauen und dem ironischen Gesichtsausdruck, der Bände spricht und mir so vertraut ist. Ich niese und reibe mir über die Nase, während sie sich Kim zuwendet.
Kim sieht mit schweren Lidern erst sie an, dann mich. Ich weiß nicht, was er denkt, habe keine Ahnung, welche weiteren Dinge ihm inzwischen wieder eingefallen sind oder was er in seinem Inneren neu entdeckt
hat, nachdem er in den Spiegel des Schiffsspeichers geschaut hat und jetzt Mutter persönlich begegnet ist.
»Sind wir schon fertig?«, fragt er und streckt sich dabei so weit, wie es das Blattwerk zulässt. Verlegen huschen seine Augen hin und her. »Könntest du … äh … dich ein bisschen verhüllen? So kann ich mich nicht konzentrieren.«
Die Mädchen, die wach sind, murmeln irgendetwas Missbilligendes, aber das Blattwerk verdichtet sich sofort und wächst, bis es Mutters Körper mit Ausnahme der Schultern und des Kopfes bedeckt.
»Weißt du, wozu du existierst?«, fragt Mutter ihn.
»Ja, um auf der Grundlage des Klados zu experimentieren. «
»Ich bin der Klados«, erwidert Mutter und sieht mir dabei in die Augen. Und an ihren
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