Das Schiff - Roman
strecke ich die Hand hoch. Zumindest schlagen wir jetzt die Richtung ein und gehen
nach außenbord. Und für mich bedeutet außenbords Leben .
Kurz darauf bemerke ich, dass ein Ruck durch das Schiff geht. Da ich schwebe, sehe ich ihn anfangs mehr, als dass ich ihn spüre, und frage mich dabei, ob die Wände tatsächlich vibrieren, oder ob ich einer visuellen Täuschung aufgesessen bin. Doch bei meinen langen, widerhallenden Sprüngen habe ich zwischendurch immer mal wieder Bodenkontakt, und dabei fällt mir ein seltsames, fast lautloses Beben auf.
Eindeutig verändert sich der Schiffskörper im Augenblick. Ob die Wucht des Sternenstaubs auf ihn einwirkt, Mutter den Wandel ausgelöst hat oder unsere Leute im Bug damit zu tun haben, kann ich nicht sagen. Falls wir jetzt zur früheren Phase schneller Rotation zurückkehren, könnte die Lage hier draußen bedrohlich werden, denn unsere Kilo würden dabei zu Gewichten werden, die alles zermalmen.
Ohne Pause ziehen wir weiter, wobei mir die Mädchen wie immer ein Stück voraus sind. Wir haben keine Kontrolle über das, was gerade passiert. Aber ich bin schon froh darüber, dass wir uns nicht dort befinden, wo die Mädchen mich hinbringen wollten. Vermutlich bewegen wir uns nach außenbord, um einen zum Bug führenden Gang zu suchen. Doch bald darauf ist nicht mehr zu verkennen, dass das Schiff sich viel stärker verändert hat, als die Mädchen sich erhofft haben.
Schließlich erreichen wir eine Gabelung: Zwar setzt sich der Korridor außenbords noch fort, doch zugleich zweigt eine Röhre ab, die über eine kurze Strecke – ich
schätze sie auf zehn Meter – zurück nach hinten führt und in einer der uns schon vertrauten runden Abdeckungen mündet.
Ich nutze die kurze Pause, in der die Mädchen sich zu orientieren versuchen, dazu, ein Oval abzutasten, ziehe die Hand jedoch gleich wieder zurück und schreie verblüfft auf. Ich kann regelrecht zusehen, wie sich dessen Muster von Sekunde zu Sekunde verändert. Zugleich verkürzt sich die abzweigende Röhre, bis sie mit den Wänden ringsum verschmilzt und verschwindet.
Die Mädchen packen mich an den Armen. Hin und her schwankend bewegen wir uns vorsichtig von einer Wand zur anderen, bis eines von ihnen aufstöhnt. Beide sehen mich mit ausdruckslosen Mienen an, lassen mich los und schieben sich weiter durch den Korridor, der nach außenbord führt. Wahrscheinlich denken sie dasselbe wie ich: Unser jetziger Aufenthaltsort könnte sich jeden Augenblick versiegeln, und dann wären wir im Metall des Schiffskörpers eingesperrt, könnten dort so lange schreien und um uns schlagen, bis die winzigen Lampen verlöschen und uns die Luft ausgeht.
Aber solche Gedanken kann ich jetzt nicht brauchen. Ich will zurück zum Bug, wo ich essen, mich waschen und zu den Sternen blicken kann, wie es uns allen ursprünglich bestimmt war.
Lieber wäre ich wieder in der Traumzeit.
Vielleicht aber auch nicht. Nach allem, was ich jetzt weiß.
Meine Arme und Beine schmerzen von den Sprüngen, die ständig alle Glieder beanspruchen: Hände und
Füße, Ellbogen und Knie, Gesäß, Schenkel und Schulter. Ich muss an das Design der Elemente denken. Tsinoy konnte sich in der Schwerelosigkeit besser bewegen als wir anderen. Jedes Geschöpf hat seinen Platz in dieser Ordnung der Dinge, der großen Kette des Lebens, die nach der Selektion gemäß den virtuellen Seiten des Katalogs und dem unbegreiflichen biologischen Phasenraum über die – beschränkten – chemischen Möglichkeiten des Genpools bis zur Geburt stofflich begrenzter Körper führt …
Wir sind aus Stoff gemacht, menschlichem Stoff.
Folglich muss es Mittel geben, diesen Stoff quer durch das Schiff zu befördern. Liefern Elemente Fässer mit diesem Stoff aus? Wird er durch winzige Röhren geleitet, die wie Kapillaren im Metall des Schiffskörpers eingebettet sind? Auch das Schiff ähnelt in mancher Hinsicht einem lebenden Organismus und hat dennoch viel von einem Mechanismus an sich.
Jedenfalls sind die Rohrleitungen lebenswichtig.
»Was, wenn jemand versucht, die Versorgungsketten eurer Mutter zu kappen?«, frage ich. Die Mädchen, wie üblich zehn Meter voraus, scheinen mich nicht zu hören. Aber ganz im Ernst: Was geschieht, wenn Mutter dieses Schiff nicht mehr lenken kann? Und was, wenn sie stirbt? Wird dann eine ihrer Töchter ihren Platz einnehmen? Werden sich bei dem Mädchen unverzüglich große Kugeln aus Brustgewebe an einem schlangenähnlichen Körper – einem Körper,
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