Das Schiff - Roman
richtig deute – was ich wahrscheinlich nicht kann –, ist die Bemerkung vielleicht gar nicht scherzhaft gemeint. Während ich mich mit den Fingerspitzen am Rand des Spalts festhalte, bitte ich sie, mir einen nicht allzu heftigen Schubs zu geben, und schaffe es halbwegs hinein. Aus irgendeinem Grund muss ich dabei an Honigtöpfe denken. (Obwohl ich mich nicht genau daran erinnern kann, was Honig überhaupt ist. Ich weiß nur, dass er bernsteinfarben aussieht, süß und klebrig ist.) »Jetzt wäre mir ein Löffel Honig lieb«, murmele ich, ohne dass Tsinoy mich hören kann. Nachdem sie mich nochmals mit ihrer Pfote angestupst hat, bin ich durch den Spalt durch und gleite in eine kleine würfelförmige Kammer, die mir irgendwie vertraut vorkommt. An einem solchen Ort bin ich schon mal gewesen.
Tsinoy unterstützt mich, indem sie mit ihren bläulichen »Scheinwerfern« in den Würfel leuchtet. Die gegenüberliegende Wand wirkt elastisch und weist fünf Ausbuchtungen auf, die eine Zweier- und eine Dreierreihe bilden. Es liegt ein schwerer, leicht säuerlicher Duft in der Luft, den ich von früher her kenne. Nur war
die Luft in diesem ersten Raum – er befand sich im Schiffskörper 01, und ich wurde dort ins Leben gezerrt – sehr viel kälter. In dieser Kammer liegt die Temperatur deutlich über dem Gefrierpunkt.
»Ein Geburtsraum«, sage ich und zittere bei der Erinnerung daran. »Was produziert das Schiff diesmal?«
»Zieh sie heraus«, fordert Tsinoy mich auf. »Zerreiß bei jeder Zelle die äußere Membran.«
Ich schaue hinüber. »Die sind noch gar nicht voll entwickelt, glaube ich.«
»Nell sagt, wir brauchen jeden, den du retten kannst.«
Ein paar Sekunden empfinde ich nichts als schreckliche Angst. »Nell sagt es … Aber wer hat es ihr aufgetragen? Die Reiseleitung?«
Diese Situation finde ich noch schrecklicher als jene, in der ich das Gesicht meiner Geliebten auf Mutters fruchtbarem Schlangenkörper entdecken musste. Es hat irgendetwas grundlegend Verkehrtes an sich, das Wachstum eines Geschöpfs zu stören, das der Genpool geschaffen hat. Aber jedes übersensible moralische Empfinden scheint hier fehl am Platz.
Tsinoys eisfarbene Zähne schlagen gegen den Spaltenrand. »Hol sie da raus!«
»Was sind das für Geschöpfe?«
»Benutz dazu deine Fingernägel«, gibt sie statt einer Antwort mit einem rasselnden Stöhnen zurück.
Zu meiner Verblüffung schaffe ich es, eine Membran aufzureißen. Trotz meiner kurzen Fingernägel ist es bemerkenswert leicht, so als zerfetzte ich einen dünnen Schwamm. Die Ausbuchtung teilt sich, und dahinter
kommt ein grauer, glänzender, mit Flüssigkeit gefüllter Sack zum Vorschein. Und ein kleines Bündel, etwa so lang wie mein Vorderarm, in dem ich den Umriss eines winzigen Kopfes entdecke, der sich bewegt.
»Lass die innere Membran unversehrt, aber trenne die Stränge ab und zieh es dann heraus.«
Von irgendwo holt Tsinoy fünf oder sechs Säcke heraus und schiebt sie mir durch den Spalt. Gleich darauf treiben sie im Würfel herum.
»Und was ist, wenn es noch gar nicht voll entwickelt ist?«
»Zieh’s heraus und danach die anderen!«
Der innere Sack leistet größeren Widerstand und ist glitschiger, so dass er schwerer zu fassen ist, aber nach kurzem Hin- und Herwenden kann ich ihn greifen, stütze meine Füße an der flexiblen Gummiwand ab und zerre mit aller Kraft daran. Schließlich löst sich der Sack mit einem schmatzenden Geräusch und fällt mir in die Arme, gefolgt von einem Wirrwarr hauchdünner, prall mit Flüssigkeit gefüllter Stränge.
In diesem Sack steckt offenbar ein kleiner Mensch. Ein Baby , das sich hin und her windet und leise Geräusche von sich gibt. Die Nährmittelstränge, die noch pulsieren, sind an einem Ende des Sacks mit einem von Adern durchzogenen rötlich-blauen Klumpen verbunden. Ich drehe den Sack herum, um herauszufinden, wie ich die Stränge abtrennen kann.
»Benutz deine Zähne«, schlägt Tsinoy vor, was ihr einen bösen Blick von mir einträgt. Doch nach nochmaligem Drehen lösen sich die Stränge zu meiner unendlichen
Erleichterung einfach von selbst und hinterlassen lediglich feuchte Vertiefungen im Sack. Aus den abgetrennten Strängen sickert Flüssigkeit; ich bemühe mich, nichts davon einzuatmen.
Instinktiv strampelt das Baby, das ich in den Armen halte, in seinem Sack.
»Und jetzt die anderen«, fordert Tsinoy mich auf.
Als ich den Babysack in einem von Tsinoys Beuteln verstaue, mahnt sie mich, dem Kind Luft
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