Das Schiff - Roman
keineswegs eingebildet habe. Meine Nase sitzt jedoch am üblichen Platz, und meine Haut hat die gewohnte Färbung. Trotzdem erschüttert mich dieser Höcker zutiefst.
Schlimm genug, wenn man mit einem zerrütteten und mehr als lückenhaften Gedächtnis aufwacht. Aber sehr viel schlimmer, wenn man mit verändertem Äußeren aufwacht!
Ich ziehe eine Grimasse, strecke mir selbst die Zunge aus, verstaue die Spiegelfolie wieder in der Hosentasche und untersuche die anderen grauen Säcke. Insgesamt sind es dreiundvierzig, aber die meisten sind leer. Andere enthalten Kleidungsstücke, die mir entweder zu klein oder zu groß sind, doch in drei Säcken finde ich jeweils zwei Wasserflaschen und zwei Nährriegel. Sechs Flaschen und sechs Riegel – das ist wie eine ganze Überlebensration.
Das Wasser in den Flaschen ist zwar nicht mehr frisch, aber trinkbar. Nachdem ich eine Flasche halb geleert habe, hocke ich mich auf eine Matte und esse einen der Riegel, verschlinge ihn binnen weniger Minuten. Zwar schwelge ich noch immer nicht in Luxus –
das hier entspricht in keiner Weise den mir in der Traumzeit verheißenen Freuden (die ich nach wie vor nur bruchstückhaft rekapitulieren kann) –, doch zumindest ist meine Lage nun besser als in allen anderen Situationen, die ich bisher im Wachzustand erlebt habe.
Ich habe wieder Kraft.
Spüre einen Anflug von Neugier.
Fühle mich fast wie ein Mensch.
Und mache mich auf den Weg zur nächsten Tür.
Ein unverhofftes Vergnügen
D raußen wartet das kleine Mädchen bereits auf mich, halb im Schatten des düsteren Raums verborgen. Aber bei meinem Anblick zieht es nur eine Grimasse, dreht sich um und verschwindet, während ich mich in den Arm kneife, um mich davon zu überzeugen, dass ich nicht träume.
Als die Lichter in diesem Raum grell aufflammen, zeichnet sich die Silhouette der Kleinen auf halbem Weg zum Ausgang ab. Sie trägt einen grünen Overall. Mit ihren durchdringenden grauen Augen wirft sie mir einen Blick über die Schulter zu. »Hau ab«, sagt sie. »Du bist zu nichts gut. Immer musst du sterben.«
Mir fällt darauf nichts anderes ein als die Frage, wo ihre beiden Begleiter abgeblieben sind.
Plötzlich treten zwei Unbekannte in mein Blickfeld – nicht etwa unsere früheren Gefährten, mit denen ich halbwegs gerechnet habe – und bauen sich neben dem Mädchen auf. Eine erwachsene Frau, begleitet von einem halbwüchsigen Jungen. Während die Frau verhärmt wirkt, hat der Junge ein Gesicht, das bestimmt gerne lächelt. Vielleicht sind sie miteinander verwandt, denn sie haben die gleiche braune Haar- und Augenfarbe
und sind ähnlich gebaut. Beider Haut ist bleich, und die Nasen und Finger sind auffällig lang. Ansonsten sehen sie aus wie Menschen meiner Art.
Ich bemühe mich um ein Lächeln, versuche, mich liebenswürdig zu verhalten, und strecke meinen Beutel hoch. »Ich habe etwas zu essen und Wasser dabei«, sage ich. Doch die Frau und der Junge starren mich nur wortlos an.
Schließlich deute ich auf das Mädchen. »Und ich dachte, du seist tot.«
Jetzt wirkt die Miene der Frau noch verhärmter. »Es geht also wieder von vorne los.«
»Du kannst doch gar nicht überlebt haben«, sagt der Junge zu mir.
»Der hier ist doch gar nicht ER, du Dummkopf«, fährt die Frau ihn an.
Das Mädchen lässt die Schultern hängen und wendet mir den Rücken zu.
»Woher bist du überhaupt gekommen?«, fragt mich der Junge.
Ich deute hinter mich.
»Es gibt hier viele Türen, und alle öffnen sich auf unterschiedliche Weise«, erklärt die Frau. »Hat dich irgendjemand hier hereingelassen?«
»Da war eine Luke, und aus der Wand kam eine Stimme«, erwidere ich. »Sie hat mich gefragt, ob ich zur Leitung des Schiffs gehöre.«
»Und? Gehörst du dazu?«, fragt die Frau.
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sage ich vorsichtig.
»Er ist der Lehrer«, wirft das Mädchen ein. »Und auch er wird sterben, genau wie die anderen.«
»Zeigen wir’s ihm«, fordert der Junge. Die ständige Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht geht mir zunehmend auf die Nerven.
»Nein, noch nicht«, bremst ihn die Frau. »Es ist ganz angenehm, wenn man ahnungslos ist, jedenfalls für eine gewisse Zeit.«
»Irgendetwas hat dich doch geschnappt«, sage ich zu dem Mädchen, das mir immer noch den Rücken zukehrt. »Und vielleicht auch die anderen. Nahe bei der Verbindungsröhre, der Röhre mit den tiefer liegenden Spuren, hat ein Kampf stattgefunden. Irgendjemand muss dich später
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