Das Schiff - Roman
Kleinen antasten, den Rest ihres Riegels verschlingen und mich mit ihrem Buch befassen soll.
Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt lesen kann .
Mit der Plastikflasche in der Hand verharre ich in der Luft, nahe einer angekokelten Wand, und versuche, möglichst viel Wasser in den Mund zu bekommen und nichts zu verspritzen. Sicherheitshalber verhake ich einen Fuß an einem verkrüppelten Stuhl, der an einem ebenso verkrüppelten Tisch steht. Falls mich irgendetwas unverhofft angreift, kann ich mich wenigstens vom Stuhl abstoßen und zu flüchten versuchen. Außerdem werde ich hier auch rechtzeitig die Schiffsrotation
bemerken, falls sie bald wieder einsetzt und die Schwere in meinen Körper zurückkehrt.
Als mir die Augen zufallen, gebe ich der Müdigkeit und Erschöpfung nach.
Oh, hallo! Hier bist du also.
In meinem eingetrübten Blickfeld taucht plötzlich ein silbernes, glattes Gesicht auf, das wie gemeißelt wirkt. Eher weiblich als männlich. Allerdings sind die Züge nicht besonders ausgeprägt. Träume ich? Nein, meine Augen sind halb geöffnet, ich bin noch nicht richtig eingeschlafen. Trotzdem habe ich Mühe, mich aus der Starre und Benommenheit zu lösen, auch wenn der Anblick des Gesichts mich so schockiert, dass mein ganzer Körper kribbelt.
Eine silbrig glänzende Hand streckt sich nach mir aus, kühle Finger streichen sanft über meine Wangen und die Stirn und fahren so durch mein Haar, als wollten sie es kämmen. Das Gesicht legt sich schräg und kommt so nahe an mich heran, dass sich unsere Nasen fast berühren. Doch das wirkt keineswegs bedrohlich. Eher liebevoll. Und neugierig.
Unendlich tiefe blaue Augen, aber ein leerer Blick.
Mit einem erstickten Schrei gewinne ich die Herrschaft über meinen Körper zurück und werfe mich herum. Sofort ziehen sich das Gesicht und die tastenden Finger in den Schatten zurück. Flüchtig streift meine Faust irgendetwas Nachgiebiges, Gummiartiges – einen Arm? Eine Schulter? Immer noch ist mein Fuß unter dem Stuhl verhakt, doch bei der plötzlichen Bewegung habe ich mir den Knöchel gezerrt, und das
tut so weh, dass ich sofort hellwach bin. Alle Sinne sind alarmiert.
Aber der Raum ist leer. Hier ist niemand außer mir.
Tief Luft holend, drehe ich mich ruckartig einmal um mich selbst, kann aber nichts Auffälliges entdecken. Ich bin – wieder – allein.
Wie zuvor flutet das Licht hin und her.
Hastig greife ich nach der Wasserflasche, presse sie an den Mund und leere sie bis auf den letzten Tropfen. Danach greife ich nach den beiden Beuteln, die immer noch an meinen Beinen festgezurrt sind. Doch der Beutel, den ich für den der Kleinen gehalten habe, ist jetzt leer. Das Buch ist verschwunden. Aber die Reste ihres Nährriegels und des Wassers in meinem Beutel hat niemand angerührt.
Regeln und Regelwidriges
I ch weiß nicht genau, wie lange ich geschlafen habe, aber danach habe ich das Gefühl, klarer zu denken, meine Umgebung schärfer wahrzunehmen und das, was auf mich zukommen mag, besser bewältigen zu können. Dieser Raum ist in einem fürchterlichen Zustand. Vielleicht hat die Feuersbrunst ihn so schwer lädiert, dass er sein Leben einfach ausgehaucht hat – seltsame Vorstellung, dass Teile dieses Schiffskörpers aktiviert und lebendig, aber verletzlich sind und sogar absterben können.
Wenn ich etwas lange genug betrachte, kann ich es nach und nach einordnen, in eine vage umrissene Perspektive integrieren. Ich weiß, dass das silberne Gesicht kein Traumbild war, schließlich ist das Buch des Mädchens tatsächlich verschwunden.
Mittlerweile habe ich beschlossen, das Wasser der Kleinen zu trinken und auch ihren Nährriegel zu essen. Da auch das Buch weg ist, habe ich ihr nichts mehr anzubieten, falls wir uns wiedersehen sollten. Ich will lieber gar nicht daran denken.
Durch die halb zusammengeschmolzene Tür mache ich mich auf den Weg ins angrenzende Zimmer. Hier
ist es zwar kälter, aber nicht bedenklich kalt; die Temperatur liegt immer noch über dem Gefrierpunkt. Als ich hereinkomme, hellen sich die Wände sofort auf. Erstmals kann ich in einem Raum des Schiffes alles klar und deutlich überblicken und gleichzeitig in mir aufnehmen. Hier drinnen ist das Licht so grell, dass ich es kaum ertragen kann. Meine Augen brauchen eine Weile zur Anpassung, und in dieser Zeit fühle ich mich völlig ungeschützt, aber das gibt sich bald darauf. Jetzt erkenne ich, wie diese Räume im Normalzustand aussehen – wenn kein Brand darin gewütet
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