Das Schiff - Roman
zu lesen. Wie oft habe ich schon Zugang zu einem Buch wie diesem gehabt und mich geweigert, es zu öffnen? Wie viele Male habe ich einen Fehler nach dem anderen wiederholt und lebenswichtige Erfahrungen, die mir Orientierung hätten geben können, bewusst in den Wind geschlagen?
Aber ich weiß mit Sicherheit, dass ich schon seit Jahren, Jahrzehnten am Leben bin! Dass ich nicht einfach in einen Beutel gespritzt und durchgerüttelt wurde und dann vor einigen Rotationsphasen zum Leben erwacht
bin. Daran muss ich glauben, wenn ich nicht völlig durchdrehen will. Auf die Gefahr hin glauben, dass mir diese Überzeugung den Tod bringen wird. In diesem Moment kann ich gar nicht anders, als meinen Schöpfer zu verfluchen, wer das auch sein mag.
Der Schiffskörper? Die Schiffsleitung? Gott?
Es ist das erste Mal, dass dieser Name, Gott, und die Vorstellung, dass ein solches höheres Wesen existiert, in meinem Kopf auftauchen. Eigentlich müsste mir das doch viele neue Türen öffnen, aber ich kann nichts davon spüren. Das Wort klingt merkwürdig leer. Weit mehr kann ich mit der unbekannten Schiffsleitung und selbst mit der Reiseleitung verbinden.
Im Augenblick fühle ich mich so elend wie niemals zuvor in meiner kurzen Lebensspanne, und das schließt auch körperliche Schmerzen und eine blinde Angst mit ein, die mir bisher unbekannt war.
Diese neu entwickelte Angst gibt schließlich den Ausschlag für meine Entscheidung. Körperliche Schmerzen vergisst man irgendwann, aber Angst baut sich nach und nach auf und hinterlässt Spuren. Doch weder in meinen Gedanken noch in meinen physischen Reaktionen kann ich solche Spuren entdecken. All meine Ängste sind neu, reichen nicht weit zurück. Sie werden mir nicht beim Überleben helfen. Ich habe zu wenig Erfahrung damit.
Ich wäre ein Narr, dieses Notizbuch zu ignorieren.
Als ich den vorderen Deckel aufklappe, knirscht der Klebstoff. Ich strecke das Buch hoch und inspiziere dessen Rücken, schließlich will ich es ja nicht kaputt
machen. Der Klebstoff hat kleine Blasen aufgeworfen, vielleicht ist er aus etwas Organischem hergestellt? Möglicherweise aus getrocknetem Monsterblut. Kann auch sein, dass die Flecken auf dem Buchdeckel gar nicht von menschlichem Blut herrühren, sondern von einer ganz anderen Substanz … Ich halte das Buch auf Abstand und mustere es mit zusammengekniffenen Augen. In diesen Seiten werde ich mich im wahrsten Sinne des Wortes verlieren.
Die erste Seite beginnt mit einer dicken schwarzen Linie. Darunter folgt Text.
Seit hundert Rotationszyklen bin ich am Leben. Ist schon komisch, dass alle Leute, denen ich begegne, Wörter wie diese benutzen – offenbar gehören solche Ausdrücke zum Patois der Überlebenden auf diesem Schiff. Du bist Lehrer, also weißt du, was Patois ist. Auch das Buch, das ich von meinem Vorgänger, meiner früheren Inkarnation, bekam, enthielt das Wort Patois , allerdings nicht viel anderes. Manchmal gehen Aufzeichnungen auch verloren.
Ich habe dieses Buch auseinandergenommen und es mit Seiten ergänzt, die von anderen Inkarnationen stammen. Außerdem habe ich, soweit es mir möglich war, leere Seiten eingefügt, auf denen man die nächsten Ereignisse festhalten kann. Die hinzugefügten Seiten, die aus früherer Zeit als meiner stammen, habe ich deutlich gekennzeichnet.
Viel Glück.
PS:
Falls du mein künftiges Selbst bist, wirst du schon herausbekommen, wie du das Folgende entschlüsseln kannst. Und falls nicht … Nun ja, das muss ich in Kauf nehmen, denn unsere Inkarnationen tauschen zwar gern Informationen miteinander aus, aber ich möchte der anderen Seite auf keinen Fall in die Hände spielen. Und irgendjemand scheint mich wirklich zu hassen.
Dich zu hassen.
Der Rest des Buches enthält Texte, die mir zunächst wie ein einziger Wortsalat vorkommen. Die Buchstaben wirken wie zufällig aneinandergereiht, einige langsam und sorgfältig gemalt, andere hastig dahingeworfen, aber alle Wörter sind ein einziges Kauderwelsch.
Außerdem weiß ich nicht mal genau, was Patois ist. Hat das was mit Paté, mit einer Fleischpastete, zu tun? Oder ist das ein bestimmter Dialekt? Ich glaube Letzteres.
Vielleicht bin ich weder ich noch er, vielleicht ist irgendetwas von uns auf der Strecke geblieben? Meine Erinnerungen sind zweifellos lückenhaft, genau wie mein Wissen. An vieles komme ich nicht heran. Andererseits kann ich ja eigentlich gar keine echten Erinnerungen besitzen, wenn ich erst vor kurzer Zeit erschaffen und aus
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