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Das Schiff - Roman

Das Schiff - Roman

Titel: Das Schiff - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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schnell genug, um unser subjektives Zeitempfinden merklich zu verändern und die subjektiv erlebte Zeit zu verkürzen.
    Ich löse mich aus meinen Tagträumen, blicke auf und erzähle meinem Doppelgänger, was ich gerade aus meinen Gedächtnis gekramt und gedacht habe. »Entspricht das dem, was du weißt?«
    Er nickt. »So steht es auch im Notizbuch. Unsere anderen Versionen hatten dieselben Erinnerungen. Die Frage ist nur, ob wir diesen Erinnerungen trauen dürfen. «
    Als ich sein Notizbuch betrachte, empfinde ich so etwas wie Gier. Schließlich gehört es mir genauso wie ihm. »Was spricht dagegen?«
    »Dass wir nicht auf natürliche Weise geboren wurden, sondern Maßanfertigungen sind.«
    »Ich weiß«, erwidere ich mit schwacher Stimme.
    »Das Schiff – oder zumindest dieser Schiffskörper – stellt aus irgendeinem Grund ständig neue Versionen von uns her.«

    »Die kleinen Mädchen bitten beim Schiff um uns«, bemerke ich.
    Er zieht eine blutverkrustete Augenbraue hoch. »Die meisten von uns sterben. Wir beziehen unsere Erinnerungen nicht aus unserer Erziehung oder aus unseren persönlichen Erfahrungen; im eigentlichen Sinne basieren sie nicht auf dem, was man gemeinhin als Lernen bezeichnet. Wir sind von der ersten Minute unseres Lebens an geprägt. Wenn wir in eine Situation geraten, für die wir geschaffen sind, aktiviert sich diese Prägung, und wir können angemessen mit ihr umgehen. Falls es jedoch eine Situation ist, die uns unserer Prägung nach überfordert, scheitern wir.«
    »Und das steht alles im Notizbuch?«
    »Das meiste davon ist Spekulation, aber es klingt plausibel.«
    »Mir wär’s lieber, mich hätte eine Frau zur Welt gebracht und ich wäre in einer Gemeinschaft groß geworden«, sage ich. »Daran würde ich mich gern erinnern.«
    Die Spinnenfrau nickt zustimmend.
    »Vielleicht werden wir uns ja an genau das erinnern, wenn wir zu dem Ort gelangen, wo wir hingehören«, sinniert mein anderes Ich. »Schließlich ist ja alles nur Illusion.«
    Diese Bemerkung halte ich zwar für ein bisschen zynisch, aber es kommt mir falsch vor, meinen Doppelgänger zu kritisieren. Dazu ist es noch zu früh.
    Die Mädchen wachen kurz auf, sehen erst uns beide und danach einander liebevoll an und schlafen wieder ein. Ihre Welt ist in Ordnung, jetzt haben sie sogar zwei
Lehrer um sich. Der große Gelbe wiegt das zarte Knochenkammgeschöpf, das im Vergleich zu ihm wie ein kleines Kind wirkt, in den riesigen Armen und hört uns mit schweren Lidern zu. Nur die Spinnenfrau ist hellwach. Dass sie ein wenig Kontrolle über unsere kleine Transferkapsel besitzt, verleiht ihr offenbar Energie.
    Ich blicke zu ihr hinunter – genauer gesagt nach achtern. Derzeit beschleunigt das Schiff und bewirkt dadurch einen leichten Schub. »Wo fliegen wir eigentlich hin?«, frage ich sie.
    »Zu einem anderen Schiffskörper, hoffe ich. Wir sind vom Schiffsrumpf 01 aus gestartet und soeben an der Seite des Schiffsrumpfs 02 entlanggeflogen, wenn ich mich nicht irre. Bei 02 ist der Bereich vor dem Antrieb weitgehend zerstört. Weist jede Menge Löcher und Einschläge auf, als wäre dort irgendetwas Großes explodiert. Der Schiffsrumpf 03 liegt auf der anderen Seite, einige Dutzend Kilometer von hier. Wenn der ebenfalls zerstört ist, weiß ich nicht, wo wir hinfliegen sollen. Vielleicht dorthin zurück, wo wir hergekommen sind.«
    Das gefällt dem großen Gelben ganz und gar nicht. »Dann lasst mich aber vorher raus«, sagt er. »Lieber versuche ich mein Glück auf dem Mond da unten.«
    Mein anderes Ich grinst. »Ihr seid mir schon ein tolles Trüppchen.«
    »Haben wir alle Duplikate?«, frage ich.
    »Ich glaube schon. Aber … für mich sehen sie alle gleich aus, und keines davon hat einen Namen.«
    »Er hat einen Namen.« Ich deute auf den Spürhund, der daraufhin die Schnauze hebt. Müde mustert er uns
mit den rosafarbenen Augen und schließt sie sofort wieder. »Er heißt Tsinoy.«
    »Das muss nicht viel besagen«, erwidert mein anderes Ich. »Ich glaube, das bedeutet einfach nur ›Chinese‹. «
    »Komisch«, wirft der Gelbe ein. »Er sieht doch gar nicht wie ein Chinese aus.«
    Keiner von uns könnte sagen, was daran so komisch ist, aber die Spinnenfrau, mein Doppelgänger und ich müssen trotzdem lachen. Möglich, dass der Spürhund das keineswegs als komisch, sondern als sehr unhöflich von uns empfindet, aber er scheint es uns nicht besonders übelzunehmen, legt sich nur bequemer hin und wickelt sich fester ins

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