Das Schlangennest
sehr langwieriger Prozeß werden. Joyce hat ein schweres Trauma erlitten. Es wird etlicher Sitzungen b edürfen, um es zu lösen."
"Aber immerhin wissen wir jetzt, was in jener Nacht wirklich passiert ist", erwiderte Daphne. "Auf Grund von Joyces Aussage, müßte doch meine Schwester aus der Haft entla ssen werden."
"Das fragt sich noch." Dr. Miller sah sie mitleidig an. "Wir sind uns sicher beide einig, daß jemand in die Maske der Gesichtslosen Frau geschlüpft ist." Als Daphne nickte, fuhr er fort: "Es könnte auch Ihre Schwester gew esen sein."
11.
Obwohl Ralph die Bedenken von Dr. Miller teilte, wandten sie sich an den zuständigen Untersuchungsrichter. Doch wie es Dr. Miller vorausgesehen hatte, bestand für die Behörden kein Grund, Lady Hammond aus der Haft zu entlassen. Joyces Aussage entl astete Laura nicht.
Daphne und Dr. Gregson hatten beschlossen, weder den F orests noch den Hammonds zu erzählen, was sie von Joyces erfahren hatten. So sprach Daphne nur davon, wieviel Mühe sich Dr. Miller mit dem kleinen Mädchen gegeben hatte und daß es noch vieler Sitzungen bedurfte, um Joyce wieder zum Sprechen zu bringen. Es kam ihr vor, als würde es Lauras Verwandte erleichtern. Aber etwas anderes hatte sie auch nicht erwartet. Dennoch bedrückte es sie.
Zwei Tage nach Joyces erster Sitzung bei Dr. Miller saß die junge Frau vor dem Fenster in ihrem Zimmer und blickte in den Park hinunter. Am Nachmittag hatte sie mit ihrem Chef telef oniert. Bert Lancaster hatte ihr versprochen, einen seiner Vertrauensmänner zu beauftragen, über die Forests und die Hammonds Erkundigungen einzuziehen.
"Willis ist ausgezeichnet in derartigen Dingen, Miß Baker", hatte er zu ihr gesagt. "Wenn es irgend etwas Greifbares gibt, er wird es herausfinden."
Daphne war auch davon überzeugt, dennoch befand sie sich in äußerst gedrückter Stimmung. Ihr kam es vor, als würden sie auf der Stelle treten. Ausgerechnet, als Laura ihre Hilfe gebraucht hatte, hatte sie versagt. Gut, dieser Unfall war nicht ihre Schuld gewesen, dennoch erschien es ihr, als hätte sie alles falsch gemacht. Wieder sagte sie sich, daß sie rechtzeitig in London gewesen wäre, wenn sie nur fünf Minuten früher das Hotel verlassen hätte.
Die junge Frau stand auf, um noch einmal nach den Kindern zu sehen. Leise betrat sie Roberts Zimmer. Ihr Neffe war über einem Abenteuerbuch eingeschlafen. Er hielt es noch in der Hand. Ganz vorsichtig entzog sie es ihm, legte ein Zeichen hinein und klappte es zu.
"Mommy", flüsterte Robert im Schlaf.
Sie deckte ihn richtig zu und küßte ihn sanft auf die Stirn, dann löschte sie das Licht und ging durch die Verbindungstür in Joyces Zimmer hi nüber.
Auch ihre Nichte schlief. Im Schlaf wirkten ihre Züge en tspannt. Liebevoll umschloß Daphne die Hand des kleinen Mädchens. Sie war überzeugt, daß Joyce etwas Schönes träumte. Vielleicht sah sie sich mit ihren Eltern und ihrem Bruder durch den Park toben. Richard Hammond war zwar kein idealer Ehemann gewesen, aber er hatte seine Kinder geliebt.
"Wir werden einen Weg finden, Lovely", sagte sie leise. "Das verspreche ich dir." Zärtlich ließ sie ihre Finger durch die Haare der Kleinen gleiten, dann richtete sie sich auf und trat auf den Gang hinaus.
Daphne wollte schon zu ihrem eigenen Zimmer zurückkehren, als sie Licht unter der Tür von Lauras Schlafzimmer hervorschimmern sah. Wer hatte um diese Zeit dort etwas zu tun? Sie wußte, daß täglich in Lauras Zimmer Staub gewischt wurde, aber bestimmt nicht abends um zehn.
Lautlos huschte sie durch den Gang, umfaßte die Klinke, drückte sie hinunter und schob die Tür auf. Mit dem Rücken zu ihr saß Claudine Forest an Lauras Frisiertisch. Vor sich hatte sie den offenen Schmuckkasten. Sie probierte gerade ein Smaragdcollier an.
"Störe ich?" fragte Daphne schneidend. Sie konnte es nicht fassen. Also hatte sie sich in ihrer Meinung über Claudine doch nicht getäuscht. Das lächelnde Gesicht, daß ihr Richards Schwester meist zeigte, war nur eine aufgesetzte Maske. Die wirkliche Claudine probierte Lauras Schmuck.
Mrs. Forest zuckte zusammen und preßte die rechte Hand auf ihre Brust. Sie drehte sich um. "Jetzt hätte ich aber einen Her zschlag bekommen können", meinte sie. "Sind Sie immer so leise, wenn Sie einen Raum betreten, Daphne?"
"Gewöhnlich nicht, aber ich wollte wissen, wer sich im Zi mmer meiner Schwester aufhält", antwortete die junge Frau. "Ich hätte nicht erwartet, Sie zu sehen."
Claudine
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