Das Schlangennest
Doktor Miller gewesen bist?"
"So schnell geht das leider nicht, Bobby", antwortete Daphne. "Ich vermute, daß ein einziger Besuch bei Doktor Miller noch gar nichts bringen wird. Es wird einige Zeit dauern, bis Joyce wieder spricht. Wir dürfen nicht die Geduld verlieren, so schwer es uns auch fallen mag." Sie griff nach seiner Nasenspitze. "Ich habe versprochen, euch zu helfen und das werde ich auch tun."
Robert blickte zu Boden. "Wird Doktor Miller ihr wehtun?" Er hob ruckartig den Kopf, während er gleichzeitig mit dem rechten Fuß den Kies zur Seite schob. "Earl sagt, daß Doktor Miller Joyce nur quälen würde und sie hinterher noch viel verstörter wäre als jetzt."
So, das sagt also Earl, dachte Daphne. Daß dieser Mann sich nicht schämte, bei einem Kind gegen sie Stimmung zu machen. "Nein, Bobby, Doktor Miller wird deine Schwester nicht quälen, darauf kannst du dich verlassen." Sie zog ihn an sich. "Bis zum Tee sind wir wieder zurück." Sie blickte ihm in die Augen. "Du vertraust mir doch?"
Robert nickte. Er schlang die Arme um ihren Hals. "Ich habe dich lieb, Tante Daphne", flüsterte er und vergrub für Sekunden sein Gesicht an ihrem Hals.
Einige Minuten später fuhr Daphne mit Joyce durch den Park zur Hauptstraße. Als sie in den Rückspiegel blickte, bemerkte sie etwas abseits der Auffahrt Bruno Forest. Es kam ihr vor, als würde Claudines Mann i hnen nachblicken.
Warum beunruhigte dieser Arztbesuch die Familie so? B efürchtete man, es könnte herauskommen, was das kleine Mädchen in der Mordnacht gesehen hatte? Auch Claudine hatte sie nach dem Lunch noch einmal eindringlich davor gewarnt, Joyces irgendwelchen Experimenten auszuliefern.
Sie nahmen die Küstenstraße nach Barnstaple. Joyce saß tei lnahmslos im Fond des Wagens. Nicht einmal die Schafherden, an denen sie vorbeifuhren, schienen sie zu interessieren. Mehrmals versuchte Daphne, die Aufmerksamkeit des Kindes zu wecken, in dem sie davon sprach, was sie gerade sahen, aber Joyce reagierte nicht. Sie schien sich wieder einmal total in ihre eigene Welt zurückgezogen zu haben.
Nach einer halben Stunde erreichten sie Barnstaple. Sie fuhren über die Taw-Brücke und bogen in die Straße ein, die zur Praxis von Dr. Miller führte. Als sie auf dem Parkplatz vor dem alten Haus hielten, entdeckte die junge Frau Ralphs Wagen. Er stand halb verborgen in einer Arkade. "Schau mal, Doktor Gregson ist auch schon da", sagte sie zu ihrer Nichte und löste ihren Gurt.
Ralph Gregson ging quer über den Parkplatz auf Daphnes Wagen zu. Er öffnete die Fondtür und hob Joyce aus heraus. "Was meinst du, sollen wir deine Tante nach dem Besuch bei Doktor Miller noch zu einem Eis einladen?" fragte er das kleine, blasse Mädchen.
Joyce blickte zu ihm auf, dann löste sie sich aus seinem Arm und schmiegte sich an Daphne, die inzwischen auch ausgestiegen war. Schutzsuchend vergrub sie das Gesicht im Kleid ihrer Tante.
"Kein Vergleich mit dem Kind von früher", raunte der Rechtsanwalt Daphne zu. "Höchste Zeit, daß etwas unternommen wird."
Daphne ergriff das Händchen ihrer Nichte. Sie folgten dem jungen Anwalt, der ihnen zum Haus des Arztes vorausging.
Vor der schweren Eichentür blieb Joyce plötzlich stehen. Sie weigerte sich, weiterzugehen. Daphne wollte sie nicht zwingen, das Haus gegen ihren Willen zu betreten, deshalb bemühte sie sich, Joyce dazu zu überreden. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sie den Kampf gewonnen hatte und das Kind ohne Widerstand die Schwelle überschritt.
"Ich warte hier auf Sie, Miß Baker", sagte Dr. Gregson, als sie das Wartezimmer im ersten Stock betraten. "Vermutlich wird man Sie gleich aufrufen." Er blickte auf seine Armbanduhr. "Immerhin sind wir pünktlich."
"Es ist schön, daß Sie uns begleiten, Doktor Gregson", meinte Daphne. "Sicher haben Sie doch jede Menge zu tun." Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sich Ralph jedem seiner Klienten so intensiv widmete.
"Nicht der Rede wert", erklärte er grinsend. "Man muß im L eben eben Prioritäten setzen."
Schon wenige Minuten später saßen Daphne und Joyce dem Psychotherapeuten gegenüber. Die junge Frau empfand sofort Vertrauen zu dem älteren Arzt. Es gefiel ihr, wie er Joyce beha ndelte und sie spürte, daß die Kleine keine Angst vor ihm hatte.
"Dr. Gregson hat mir bereits in groben Zügen von dem Fall b erichtet", bemerkte Dr. Miller, als er sich mit Daphne alleine unterhielt, während seine Sprechstundenhilfe Joyce beschäftigte. "Natürlich habe ich auch von
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