Das Schlangennest
der Ermordung Sir Richards gehört."
"Ich bin überzeugt, daß Joyce in jener Nacht irgend etwas g esehen hat, was ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache raubt."
"Das Kind steht einwandfrei unter Schock. Es hätte sofort e twas unternommen werden müssen. Es ist gut, daß Sie gekommen sind. Leider glauben immer noch viele Leute, daß Kinder Schicksalsschläge leichter verkraften als Erwachsene." Dr. Miller schrieb etwas auf eine Karteikarte. Er erklärte Daphne, wie er sich Joyces Behandlung vorstellte. "Wir dürfen keine Wunder erwarten", sagte er. "Selbst wenn es mir gelingen sollte, die Kleine unter Hypnose zum Sprechen zu bekommen, heißt das noch lange nicht, daß sie auch später sprechen wird."
"Ich werde darauf vorbereitet sein", erwiderte D aphne.
Die Sprechstundenhilfe brachte Joyce zurück. Daphne nahm ihre Nichte auf den Schoß. Sie war überrascht, wie schnell es dem Psychotherapeuten gelang, das kleine Mädchen in Hypnose zu versetzen. Joyce entspannte sich völlig. Sie schloß die Augen. Ihre Züge wurden weich.
"Geht es dir gut, Joyce?" fragte Dr. Miller sanft. "Joyce..."
"Ja, gut", flüsterte das Kind mit einer Stimme, die von weither zu ko mmen schien.
Daphne mußte sich zwingen, ruhig sitzen zu bleiben. Sie durfte Joyce nicht stören. Es erschien ihr wie ein Wunder, daß ihre Nichte jetzt sprach. Auch wenn sie darauf gehofft hatte, tief in ihrem Unterbewußtsein hatte sie nicht daran geglaubt.
Dr. Miller führte Joyce langsam in die Nacht zurück, in der ihr Vater ermordet worden war. "Es ist Vollmond", sagte er. "Der Mond scheint hell in dein Zimmer. Siehst du ihn?"
"Ja."
"Hat dich der Mond geweckt?"
"Nein."
"Wodurch bist du dann aufgewacht?"
"Sie hat gerufen?"
"Wer hat dich gerufen, Joyce?" fragte Dr. Miller. Er tauschte mit Daphne einen kurzen, überraschten Blick.
"Weiß nicht."
"Gut, Joyce, du stehst also auf und verläßt dein Zimmer", sagte der Arzt behutsam. "Steigst du auch die Treppe hinunter?"
"Ja."
"Und was tust du dann?"
"Laufe zu Daddy."
Also, doch! Daphne strich sanft über Joyces Arm. Das kleine Mädchen wirkte noch immer völlig entspannt. Mit geschlossenen Augen lag es in ihrem Arm.
"Wo ist dein Daddy?" fragte Dr. Miller gespannt.
"Bibliothek."
"Ist er alleine, Joyce?"
Das Kind antwortete nicht. Sein Gesichtchen verzog sich vor Qual. Leise stöhnte es auf.
"Joyce, ist dein Daddy alleine?"
"Nicht alleine." Joyce begann zu schluchzen.
"Sollten wir nicht lieber aufhören?" fragte Daphne erschro cken. Der Schmerz des Kindes schnitt ihr ins Herz. Erst jetzt machte sie sich bewußt, daß Joyce durch die Hypnose alles noch einmal erlebte.
Dr. Miller schüttelte den Kopf. "Joyce, du mußt keine Angst haben. Wir sind bei dir. Es gibt nichts, vor dem du dich fürchten müßtest", sprach er mit ruhiger, gleichförmiger Stimme auf das Kind ein. "Sag uns, wer bei deinem Daddy ist."
"Frau."
"Deine Mommy?"
"Nein."
"Kennst du die Frau?"
"Nein."
"Wie sieht sie aus."
"Weiß. Kein Gesicht."
"Du meinst, die Frau hat kein Gesicht?" fragte Dr. Miller, ohne sich seine Erregung anmerken zu lassen.
"Kein Mund. Keine Augen."
"Spricht die Frau mit deinem Daddy, Joyce?"
Das Kind krümmte sich auf Daphnes Schoß zusammen. "Nein, nein", schluchzte es. "Tu es nicht. Daddy! ... Daddy!"
"Es ist alles gut, Joyce. Du mußt keine Angst haben."
"Hab Angst. So große Angst."
"Warum hast du Angst?"
"Die Frau hat ein Messer. Sie... Daddy! ... Daddy!" Joyce warf sich herum. Sie trommelte mit den Fäusten gegen Daphnes Schultern. Vergeblich bemühte sich die junge Frau, die Kleine festzuhalten.
"Eins! Zwei! Drei!" Dr. Miller schlug in die Hände.
Joyce riß die Augen auf. Sie blinzelte ins Licht. Verwundert blickte sie sich um.
"Du hast nur etwas geschlafen, Joyce", sagte der Psychother apeut. "Es ist alles in Ordnung." Er griff in ein Glas, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand, und gab ihr einige Bonbons.
"Wie fühlst du dich, Joyce?" fragte Daphne und hoffte, daß i hre Nichte ihr antworten würde, aber die Kleine schmiegte sich nur an sie. Liebevoll schloß sie das Kind in die Arme. Sie war überzeugt, daß Laura auf Grund von Joyces Aussage aus der Haft entlassen werden würde. Joyce hatte in jener Nacht also auch die Frau ohne Gesicht gesehen und sie hatte sogar beobachtet, wie ihr Vater erstochen worden war.
"Ich bin überzeugt, daß ich Ihrer Nichte helfen kann", meinte Dr. Miller, als er noch einmal unter vier Augen mit Daphne sprach. "Allerdings wird es ein
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