Das Schlangental - Neal Carey 3
Lage Stacheldraht. Er löste eines der Kabel, die um seine Hüfte geschlungen waren, und zog es unter der untersten Lage hindurch, zog es zusammen, knotete es oben zu. Dasselbe machte er mit dem anderen Kabel auf der anderen Seite seiner Jacke.
Als der Draht unter der Jacke fest zusammengebunden war, atmete er noch einmal tief durch und schwang dann seinen linken Fuß über die Jacke hinweg, kippte sein Becken und bohrte die Spitze des linken Fußes in die Innenseite des Zaunes. Dann zog er den rechten Fuß nach, hielt sich mit den Händen an der Jacke fest und stemmte sich über den Zaun.
Er hielt einen Augenblick inne und lauschte. Er hörte keine Schritte, keine bellenden Hunde, kein Klicken eines Gewehrs.
Er hielt sich mit der linken Hand am Zaun fest, griff nach oben, löste die Kabel, ließ sie fallen, zog die Jacke herunter und ließ sie ebenfalls zu Boden fallen. Dann kletterte er etwa einen Meter den Zaun herunter, lauschte noch einmal, stieß sich mit den Händen ab und ließ sich zu Boden fallen. Er landete auf den Fußballen, dann kippte er nach hinten und fiel auf den Po.
Eingerostet, dachte er. Definitiv eingerostet. Aber nicht so übel.
Er war immer noch damit beschäftigt, sich selbst zu beglückwünschen, als er ein tiefes Knurren vernahm.
Natürlich war es ausgerechnet ein Dobermann. Er näherte sich langsam und geduckt, die Haare auf seinem Rücken standen aufrecht, er hatte die Fänge gefletscht und kleine Speicheltröpfchen glänzten auf seinen Zähnen.
Neal murmelte: »Du hättest ja auch anfangen können zu knurren, als ich noch auf der anderen Seite des Zaunes war.«
Aber das hier war kein Wachhund, das wurde Neal jetzt klar – Wachhunde sind darauf trainiert, zu bellen. Es war ein Kampfhund, der darauf trainiert war … na ja, zu kämpfen.
Und dieser hier hatte ihn ausgetrickst.
Der Hund kam einen weiteren vorsichtigen Schritt auf ihn zu. Er schätzte ihn ab und gelangte schnell zu dem Schluß, daß dieser Mensch kein großes Problem für ihn darstellen würde. Er zeigte noch mehr Zähne und knurrte lauter.
Er würde ihm gleich an den Hals springen.
Da gibt’s nur eins, dachte Neal.
Panik.
Dreh dich um, renn zum Zaun und bete, daß du hoch genug klettern kannst, bevor das Viech hier dich ins Bein beißt, dich vom Zaun reißt und dir den Kopf vom Hals reißt.
Panik.
Nein, nein, bloß nicht. Denk nach. Ganz bestimmt hatte Graham auch dieses Thema bei seinen endlosen Lektionen abgehandelt. Er hatte ja auch alles andere bedacht. Stacheldraht, Alarmanlagen … Hunde.
Dir bleibt nur eins, Neal, und es ist sehr eigenartig und sehr riskant … Du tust folgendes…
Neal langte mit zitternder Hand nach unten und öffnete seinen Reißverschluß. Dann nahm er die typische Männerpinkelhaltung ein.
Eigenartig ist es zweifellos, dachte er, aber von einem »sehr« kann keine Rede sein…
Der Hund knurrte weiter, kam aber nicht näher.
Warum, fragte sich Neal, kann man eigentlich, wenn man unbedingt pissen muß … nicht pissen? Genau wie bei einer Untersuchung, wenn die Schwester einem den Becher gibt, oder wenn man einem gefräßigen Vierbeiner gegenübersteht…
Komm schon, komm schon, komm schon.
Der Hund wurde ungeduldig und kam näher. Er starrte auf Neals Schwanz.
Komm schon … na, endlich.
Neal schloß seinen Reißverschluß.
Der verdutzte Hund lockerte seine Angriffshaltung. Seine Nase begann wild zu zucken. Er beugte den Kopf zu Boden, um genauer zu riechen. Dann wandte er Neal den Hintern zu und hob sein Bein.
Du hast jetzt – wie nennt man das – ein Date mit »Hasso«. Er hat verstanden, daß du die Hunde-Etikette beherrschst. Wenn er wirklich gut trainiert ist, wird er nur auf deine Pfütze pissen und dich danach trotzdem töten. Aber sonst mußt du versuchen, ihm zu zeigen, daß du dich niedriger einstufst als ihn. Bei dir ist das doch kein Problem…
Neal legte sich auf den Rücken, bot sich voll verwundbar einem Hundeangriff dar. Der Dobermann kam zu ihm herüber, knurrte, schnupperte an Neals Schritt und Bauch, dann öffnete er sein Maul über Neals Hals.
Wenn du dich in diesem Augenblick bewegst, bist du ein toter Mann…
Er spürte, wie der Hund seine Zähne vorsichtig in seine Haut bohrte.
Der Hund knurrte wieder. Dann ließ er los, richtete sich auf, wedelte mit dem Schwanz.
Dann leckst du sein Ohr ab.
Leckst sein Ohr?
Leckst sein Ohr! Das ist in der Hundesprache das Zeichen dafür, daß er der Boß ist. Wenn ihm klar ist, daß du das zugibst, wird
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