Das Schloss am See: Mittsommerherzen (German Edition)
die Frage stellen musste, ob sie diesen mit ihrer Lüge nicht längst verwirkt hatte.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich weiß, dass es ein Fehler war, dir etwas vorgemacht zu haben. Aber bitte, versuch doch wenigstens, mich zu verstehen! Hilda hat mir stets versichert, nein, sie hat mir
versprochen
, dass Beringholm Slott nach ihrem Tod mir gehören soll. Ich …“ Sie brach ab, schüttelte verzweifelt den Kopf. „Du siehst doch selbst, was wir hier auf die Beine gestellt haben! Hilda hätte bestimmt nicht gewollt, dass unser gemeinsames Projekt den Bach hinuntergeht.“
Mit klopfendem Herzen schaute sie ihn an. Doch ihre Hoffnung, dass er Verständnis für ihre Situation aufbringen könnte, wurde jäh enttäuscht.
„Ach komm, spiel dich vor mir bitte nicht als Wohltäterin auf, Lisbet!“ Er winkte ab. „Ich weiß inzwischen, wer du bist! Und nun erzähle ich dir mal, was
ich
glaube: Du hast mit
Mia
ein Vermögen verdient, doch irgendwann wurde dir die Arbeit zu viel, und du hast deinen Duettpartner einfach im Stich gelassen. Eine Weile gelang es dir, deinen Lebensstil mit dem Geld, dass du dir angespart hattest, aufrechtzuerhalten. Und als alles aufgebraucht war, bist du Tante Hilda begegnet. Der gutherzigen, leichtgläubigen Tante Hilda, die sich von dir hat übers Ohr hauen lassen. Du hast recht gut auf ihre Kosten gelebt, was? Gut genug offenbar, dass meiner Großtante nichts mehr blieb, um auch nur die notwendigsten Reparaturen an Beringholm Slott durchzuführen.“
Mit wachsendem Entsetzen hatte Lisbet seinen Ausführungen zugehört. Er glaubte immer noch, dass sie Hilda nur ausgenutzt hatte? Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war?
Sie wusste nicht, was stärker war, die Wut oder die Enttäuschung. Beides nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen. „Du hast ja überhaupt keine Ahnung“, entgegnete sie aufgebracht. „So ist es nicht gewesen!“
„Nein?“ Er lächelte herausfordernd. „Nun, ich bin schon ganz gespannt auf deine Geschichte. Lass dir nur eines gesagt sein: An Märchen glaube ich schon lange nicht mehr.“
Sie lachte bitter auf. „Keine Sorge, Hannes – für ein Märchen fehlt meiner Geschichte das romantische Potenzial.“ Sie wandte sich von ihm ab und schlang die Arme um ihren Körper. Ihr war auf einmal schrecklich kalt. „Ja, es stimmt, vor meiner Zeit hier war ich als Sängerin mit
Mia
recht erfolgreich. Ich hatte mich mit meinem Duettpartner Ruben verlobt, und uns stand eine großartige Karriere bevor. Wir waren gerade dabei, Europa zu erobern, ja sogar von Amerika war bereits die Rede. Das Leben erschien mir damals wie ein wunderbarer Traum. Wir griffen nach den Sternen, und nichts konnte uns aufhalten – so dachte ich zumindest. Aber dann …“ Sie schloss die Augen, als die Erinnerung an jenen schrecklichen Tag vor sechs Jahren sie zu überwältigen drohte. „Von dem Unfall habe ich dir ja schon erzählt. Aber eins habe ich dir noch nicht gesagt: dass ich mir damals nur gewünscht habe, die Feuerwehr wäre nicht rechtzeitig an der Unfallstelle gewesen und ich wäre einfach im Wrack meines Autos gestorben.“
Sie hörte, wie er hinter ihr scharf einatmete, und drehte sich wieder zu ihm um. „Schockiert dich das? Dass mir ein Leben im Rollstuhl, mit ständigen Schmerzen und endlosen Operationen, ohne Chancen auf Erfolg, nicht lebenswert erschien? Bis mir einige Monate später in der Reha-Klinik ein Mensch begegnet ist, der mir den Spiegel vorgehalten hat.“
Hannes schaute sie überrascht an. „Hilda?“
Sie nickte. „Deine Großtante war ebenfalls dort in Behandlung, und irgendwie vollbrachte sie das kleine Wunder, mich aus dem Sumpf von Selbstmitleid zu befreien. Hilda hat mir dazu geraten, einen Tiertherapeuten aufzusuchen. Ich habe nicht so recht daran geglaubt. Wieso sollte ihm gelingen, was die Ärzte in der Klinik auch nicht geschafft hatten? Doch sie behielt recht. Die Beschäftigung mit den Tieren tat mir gut, und ich machte rasch Fortschritte. Bald brauchte ich statt des Rollstuhls nur noch Krücken, und etwa ein Jahr nach dem Unfall konnte ich wieder aus eigener Kraft auf den Beinen stehen. Mit Hilda bin ich die ganze Zeit in Kontakt geblieben. Und eines Tages besuchte ich sie hier auf Beringholm Slott.“ Sie lächelte versonnen. „Ich weiß noch, wie erschrocken ich war, in welch katastrophalem Zustand sich das Schloss befand. Damals lebten schon einige Tiere hier, die Hilda vor dem Gang zum Abdecker bewahrt hatte. Ich fand ihr
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