Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
ihnen so begrenzte Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte verliehen hat. Gott
hat auch mit diesen Kindern etwas vor, und er benutzt uns Lehrer als Werkzeuge,
seine Absichten zu verwirklichen. Herr Professor« — und nun sprach Landenberger
mit jenem edlen Feuer, das ihn immer beseelte, wenn er von diesen letzten
Motiven seiner Erziehungsarbeit sprach — »Herr Professor, glauben Sie mir, wenn
wir nicht von der göttlichen Bestimmung auch dieser Kinder wüßten, einmal
Kinder Gottes zu werden, sich Gott verantwortlich und in Gott geborgen zu
wissen, dann würden wir heute noch unsere Arbeit aufgeben, die so viel Liebe,
Ausdauer und Geduld erfordert, daß sie die bloße Kraft eines Menschen und
Lehrers einfach übersteigt.«
Der Professor blickte
nachdenklich vor sich hin: »Ich bestreite Ihnen die Lauterkeit Ihrer Absichten
nicht, aber ich weiß nicht, ob Sie sich Ihr Ziel nicht zu hoch gesteckt haben.«
»Darüber kann nur die Erfahrung
selbst entscheiden, und ich kann nur sagen: ›Komm und sieh!‹ Und vergessen Sie
nicht: Diese Kinder leben hier in einer Anstaltsgemeinschaft, deren ganzes
Leben und Arbeiten darauf ausgerichtet ist, in den Herzen der Kinder die Furcht
vor Gott, die Liebe zu ihrem Herrn zu wecken und sie zu einem Leben mit Gott zu
erziehen. Die Luft, die sie hier atmen, ist eine andere als in den Familien,
aus denen sie meistens kommen. Was wir sie hier im Religionsunterricht lehren,
das wollen wir, soweit es menschenmöglich ist, auch im Leben unserer
Gemeinschaft verwirklichen. Es ärgert Sie vielleicht, wenn ich Ihnen, dem
Vertreter der Wissenschaft, sage: Wir würden es nicht bloß als eine
Versündigung an diesen Kindern, sondern geradezu als ein unwissenschaftliches
Verhalten ansehen, wenn wir den Schwachsinnigen die Welt des Geistes überhaupt
verschlössen und sie zu bleibender Unmündigkeit verdammten dadurch, daß wir
ihnen das Höchste, nämlich die Beziehung zu Gott, vorenthielten. Ob Sie von Ihrem
wissenschaftlichen Standpunkt aus diese Grundlagen unserer Erziehung anerkennen
oder nicht — , wir müßten uns selbst aufgeben, wenn wir diesen Weg, dieses Ziel
für unser Streben verließen.«
»Herr Inspektor, ich will Sie
jetzt nicht auf den Begriff ›Wissenschaft‹ festnageln, sonst müßte ich Sie
fragen, ob Gott wirklich ein Gegenstand der Wissenschaft sein kann. Ich bin
überzeugt, daß dies nicht der Fall ist, und weil das so ist, darum kann auch
Ihre Erziehung nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen in strengem Sinn
beruhen. Weil Gott nicht ein Gegenstand der Wissenschaft, sondern des Glaubens
ist, darum können auch Ihre Erziehungsgrundsätze nur in Ihrem Glauben begründet
sein. Aber genug davon — ich will mich durch die Praxis gerne belehren lassen,
daß Ihre Arbeit nicht ohne Erfolg ist, und bin bereit, meinen Angriff insoweit
zurückzunehmen, daß ich sage, bei Schwachsinnigen leichteren Grades sei eine
gewisse religiöse Beeinflussung vielleicht möglich. Dazu seien aber besonders
geschulte Kräfte notwendig und wahrscheinlich auch die Erziehung in einer
Anstalt.«
Landenberger erhob sich. »Darf
ich Sie also bitten, in meine Klasse mitzukommen? Ich werde den Kindern eine
Geschichte erzählen, die sie noch nicht kennen. Es sind Buben und Mädchen, zehn
bis sechzehn Jahre alt. Nur ein paar von ihnen können etwas schreiben und
lesen, aber biblische Geschichten interessieren sie sehr, und manche können sie
nach einiger Zeit auch selbst erzählen, wie eben Kinder erzählen.«
Sie betraten das Schulzimmer,
wo inzwischen eine Erzieherin die Kinder beschäftigt hatte. Einige deuteten auf
den fremden Mann. »Wer? Onkel?« Der Onkel begab sich schnell in den
Hintergrund, aber die Köpfe drehten sich nach ihm um.
»Schaut her zu mir«, begann
Landenberger, »wir haben heute Besuch bekommen. Ihr wißt doch, was Besuch ist?«
Natürlich wissen sie das.
»Ja, denkt euch, dieser Onkel
ist auch ein Lehrer, aber er hat viel größere Schüler, als ihr seid. Seine
Schüler wollen einmal Doktor werden, wie unser Herr Dr. Häberle einer ist.«
Die Kinder sehen sich wieder
nach ihm um. Karl meldet sich: »I weiß, der will bei uns spioniere.«
»Nein, das will der Onkel
nicht. Aber er will zuhören und sehen, ob ihr mich versteht. Also paßt gut auf.
Ich will euch eine Geschichte erzählen von einem Vater und von seinem Sohn. Das
ist eine Geschichte, die der Herr Jesus erzählt hat. Wer ist denn der Herr
Jesus?«
»Unser Heiland!«
»Warum nennen wir ihn denn so?«
»Weil er uns
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