Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
umsonst.
›Sieh, Heinrich‹, sagte ich, ›wie
schön du malen kannst‹, und fuhr langsam mit seiner Hand, die die Kreide nicht
mehr fallen lassen konnte, auf der Tafel auf und ab.
Anfangs guckte er gar nicht
hin, sondern machte die Augen zu, aber als ich nicht locker ließ, ihn vielmehr
bewunderte, was er für schöne Striche fertigbringe, machte er langsam seine
Augen auf, wobei ein schwaches Lächeln über sein Gesicht huschte. Ich sah, wie
er die Striche verfolgte, wie er also anfing, sich dafür zu interessieren, was
hier vor sich ging. Da ließ ich seine Hand los, und siehe da: er ließ die
Kreide nicht mehr fallen, sondern zog weiter Striche hin und her.
»Großartig machst du das,
Heinriche, sagte ich.
Da nahm ich den Schwamm und
löschte alles aus. Er sah mich verdutzt an.
›Jetzt wollen wir einmal gerade
Striche machen. Von oben nach unten, das sieht dann aus wie ein Stecken oder
wie eine Stange, wie die Fahnenstange vor unserem Haus.‹
Er nickte. Er kannte sie. Er
hatte schon mitgeholfen, als man das Fahnentuch aufzog.
Ich führte ihm jetzt den Arm nach
oben und dann nach unten: der Strich war da, aber noch etwas wackelig. Wir
wiederholten es so lange, bis sich seine Muskeln von selbst bewegten, und dann
ging es nach links und rechts, bald waagrecht, bald schief, bald im Kreis, bald
in der Ellipse, bis sich die Muskeln seines Armes daran gewöhnten. Das ging
natürlich nicht auf einmal, sondern langsam, Stunde um Stunde. Jedesmal gab es
etwas Neues, und ich spürte, wie es ihm von Tag zu Tag mehr Freude machte.
Zuletzt kam das Schwerste. Ich
machte einen Punkt auf die Tafel und in einem gewissen Abstand einen zweiten.
›Siehst du, Heinrich, da sitzt
eine Muck (Fliege) und da drüben noch eine. Jetzt wollen beide zusammenkommen—
ich machte einen Strich — , ›und jetzt sind sie beieinander.‹
Das schien ihm zu gefallen; er
streckte sogar die Hand nach der Kreide aus, er wollte es offenbar nachmachen.
Ich machte wieder zwei Punkte.
›Probier’s!‹
Aber in der Mitte erlahmte
seine Hand, der Strich kam nicht zum Ziel.
›Jetzt ist sie hinuntergefallen,
wir müssen ihr helfen.‹
Ich führte den Arm so lange,
bis er den Strich allein ziehen konnte.
Von da an dauerte es nicht
lange, bis wir an die Tafel Figuren malten, Dreiecke, Vierecke, Sterne, Kreuze.
Und weil die Striche nicht immer gerade werden wollten, nahmen wir ein Lineal
zu Hilfe. Und wenn es auch noch manchen Schweißtropfen kostete, nach einem
halben Jahr war es so weit, daß Heinrich alle Linien zeichnen konnte, die ich
ihm angab, und mich auch verstand, wenn ich sagte: ›Mal einen Stern, ein Kreuz
usw.‹ Er konnte diese Worte zwar noch nicht selbst aussprechen, und es dauerte
ein weiteres halbes Jahr, bis er den Versuch machte, mir die Worte
nachzustammeln, und bis es ihm gelang — , aber der Durchbruch war geschehen, er
hatte nicht bloß die Herrschaft über seine Glieder erlangt, auch sein
Anschauungsvermögen war geweckt, ein gewisser Formensinn entwickelt, er konnte
sich selbst beschäftigen mit Zeichnen und Malen. Unvergeßlich der Tag, wo
Heinrich seinen Namen nicht nur sprechen, sondern mit großen ungefügen
Buchstaben sogar malen konnte! Glückstrahlend zeigte er ihn überall herum, vor
allem seinen Eltern, als sie auf Besuch kamen.
Und wie mit Heinrich, so ging
es mit vielen, vielen anderen. Doch welcher Geduld und Ausdauer es dabei bedarf,
das können sich wohl nur die wenigsten denken...«
Gerade in jenem Jahr, als
Landenberger diese Erfahrungen und Erkenntnisse niederschrieb und damit einen
Weg in völliges Neuland wies, wurde im Remstal die erste Eisenbahn gebaut. Die
Anstalt, hinter der sie unmittelbar vorbeiführte, mußte hierzu einen kleinen
Teil ihres Gartens und Hofraums abgeben. Es war ein schmerzlicher Verlust, wenn
auch der Staat eine Entschädigung von 1250 Gulden zahlte. Als nun der erste Zug
vorüberfuhr, dachte Landenberger bei sich, wieviel leichter und schneller doch
die technische Eroberung des Landes vor sich gehe als die geistige des Gemüts,
die ihm von Gott zugewiesen war. Aber wieviel schöner war der erste
Freudenschrei des Kindes, das seine Aufgabe begriffen hatte, als das Pfeifen
des Zugs, der seine Ankunft meldete! Dort tat sich eine neue Welt auf, und ein
Rätsel wurde gelöst, hier blieb im Grunde alles beim alten, nur das Tempo des
Lebens hatte sich verändert.
Aber wenn schon Technik sein
mußte, so wollte Landenberger sie sich auch zunutze machen. Darum wurde
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