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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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dieser Behandlung bald sterben
würde.«
    Was tun? Am liebsten hätte der
Inspektor den Buben sofort geholt, ehe es zu spät war. Aber Hausvater Kölle,
den er um Rat fragte, erklärte, es sei kein Platz frei; und wenn man in Stetten
etwas lernen müsse, dann sei es das Wartenkönnen. Schweren Herzens vertröstete
er also den Pfarrer, der ihm geschrieben hatte. Er bat ihn um Geduld; sobald
ein Platz frei sei, werde er ihm schreiben.
    Wenige Tage später klagte eine
Mutter: »Er schlägt mir alles zusammen, und ich muß doch neben ihm die
Haushaltung versehen. Kommt er hinaus auf die Gasse, so verderbt er alles. Die
Leute schimpfen und sagen, warum ich ihn nicht fort tue. Ich weine dann und
sage: ich kann ihn doch nicht wegwerfen oder den ganzen Tag einsperren. Zuletzt
geht niemand mehr zu mir ins Haus, und ich habe doch einen Kramladen.«
    Beim Mittagessen erzählte der
Inspektor seiner Frau von diesem Brief. »Ich weiß schon, was der Hausvater
wieder sagen wird und was ich der armen Mutter schreiben muß: ›Sie müssen
warten, bis ein Platz frei ist‹.«
    »Eigentlich ist es schrecklich,
wenn einer Mutter ihr Kramladen wichtiger sein muß als ihr eigenes Kind«,
entgegnete sie.
    »Der Laden ist halt der
Verdienst, von dem sie lebt. Das ist nicht so einfach für sie. Oft denke ich,
es sollte einmal festgestellt werden, wie viele Schwachsinnige, Epileptische
und Pflegebedürftige es überhaupt bei uns im Land gibt. Dann würden die in
Stuttgart sehen, wie groß das Elend ist. Ich glaube sogar, daß in unserer
herrlichen Zeit, die es angeblich so weit gebracht hat, Schwachsinn und
Epilepsie im Wachsen sind. Ich kann es zwar nicht mit Zahlen beweisen, aber
sieh dir doch das verrückte Tempo an, in das unser Volk seit seinem glorreichen
Sieg anno 70 gekommen ist! Dieses ruhelose Jagen und Rennen nach Geld, nach
Vergnügen, nach Luxus! Keiner gönnt dem anderen etwas, jeder will mit Gewalt
reich werden und kämpft seinen Konkurrenten erbarmungslos nieder. Manchmal
kommt es mir vor, als wäre der Sieg von damals unserem Volk zum Fluch geworden.
Wie viele unserer Kinder sind erblich belastet, stammen von Trinkern oder aus
leichtfertig geschlossenen Ehen, die ebenso leichtfertig wieder aufgelöst
werden! Denk an die Mietskasernen, die jetzt aus dem Boden schießen, an die
ungesunden Wohnungen ohne Luft und Licht, an die Fabriken, in denen schon
Kinder arbeiten müssen -, da ist es doch kein Wunder, daß die Lieblosigkeit
überhand nimmt. Guck dir doch unsere Kinder an! Die meisten von ihnen sind ohne
Liebe aufgewachsen, daher kommt’s, daß ihre geistigen Fähigkeiten sich nicht
entwickeln konnten. Wo soll das alles noch enden? Wir in Stetten sehen die
Kehrseite der Medaille, die nach außen so großartig und verlockend glänzt. Aber
die Verantwortlichen schließen die Augen davor.«
    »Dann muß man sie ihnen halt
öffnen!«
    »Das will ich schon tun, soviel
an mir liegt. Ich will’s ihnen sagen und schreiben, daß ihnen Hören und Sehen
vergeht.«
    Sie lächelte: »Im Gegenteil,
sie sollen es sehen und hören! Aber sag, wenn es so aussieht, warum baut der
Staat dann nicht selbst eine Anstalt für seine unglücklichen Kinder? Er hat doch
Geld genug, mehr als die Kirche oder die Innere Mission.«
    »Ach, der Staat! Der denkt an
andere Dinge, die ihm näher liegen.«
    »Und die wären?«
    »Kasernen und wieder Kasernen,
Eisenbahnen, Straßen, Schulen und was nicht alles!«
    Nach einer Pause fuhr er fort:
»Vielleicht hat es auch sein Gutes, wenn er die Schwachsinnigen uns überläßt.«
    »Warum?«
    »Weil zu unserer Arbeit mehr
gehört als ein bißchen Humanität oder soziale Gesinnung oder wie man es nennen
mag.«
    Nachdenklich erwiderte sie: »Es
ist doch merkwürdig: Auf der einen Seite fehlt es uns an Plätzen, auf der
anderen sagst du immer, leider gebe es viele Eltern, die törichterweise
Bedenken hätten, ihre Kinder zu uns zu bringen. Eigentlich müßten wir doch froh
sein, wenn sie sie zu Hause behalten. Wenn ich so ein Kind hätte, ich wüßte
nicht, was ich täte.«
    »Ich achte diesen Standpunkt.
Warum sollen nicht Eltern, denen es die Umstände gestatten, ihr Kind daheim
behalten? Aber sie sollten immer denken: Was ist das Beste für das Kind? Es ist
schön, wenn Eltern die Last, die Gott ihnen mit einem schwachsinnigen Kind
auferlegt hat, nicht einfach abschütteln wollen. Aber meistens liegen die Dinge
so, daß die häuslichen Verhältnisse — denk an die Geschwister — das Verbleiben
eines

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