Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Schwachsinnigen zu Hause unmöglich machen. Und bleibt es nicht auch in
der Anstalt ihr Sorgenkind? Steht es ihrem Herzen nicht immer noch nahe, auch
wenn es räumlich ferne ist?
»Wenn du das aber den Eltern
sagst, brauchst du dich nicht zu wundern, wenn deine Plätze nicht ausreichen.«
»Du hast recht. Eigentlich
müßte ich alle Eltern warnen und sagen: Behaltet eure Kinder lieber daheim!
Daheim haben sie es besser. Aber das darf ich nicht, das wäre ja nicht wahr.
Ich muß einladen, ich muß ihnen sagen: Eure Kinder haben es nirgends besser als
bei uns. Bringt sie uns! Ihr werdet es nicht bereuen.«
»Dann ist die Sache klar. Dann
mußt du sehen, daß du noch mehr Kinder unterbringen kannst, und darum mußt du
bauen, bauen und noch einmal bauen!«
»Ja. Wir müssen eben bereit
sein, noch mehr Schulden auf uns zu laden. Und dazu muß ich meinen Herren vom
Ausschuß Mut machen.«
Es war nicht das erstemal, daß
die Inspektorsleute ein solches Gespräch miteinander führten. Und wenn der
Inspektor müde werden wollte, wenn alle Pläne und Verhandlungen sich immer wieder
zerschlugen, dann war es seine Frau, die ihn ermunterte: »Laß nur nicht locker!
Wenn Gott diese Sache angefangen hat, dann wird er sie auch hinausführen.«
Und richtig! Eines Tages kam er
froh nach Hause: »Weißt du das Neueste? Oberregierungsrat Clausnizer hat
geschrieben, die Regierung halte es für dringend erforderlich, ein Haus für
männliche Epileptische zu bauen. Es gehe nicht an, daß die männlichen und
weiblichen Epileptiker weiterhin in einem Hause wohnten; auch müsse Platz
geschaffen werden, daß wir noch mehr Kranke aufnehmen könnten. Es seien Klagen
eingelaufen, daß so viele von uns abgewiesen werden. So ist’s recht! Jetzt
haben sie’s in Stuttgart scheint’s auch gemerkt! Nun will ich bloß sehen, ob
der Staat uns auch das nötige Geld gibt, wenn er solche Forderungen an uns
stellt. Die Hälfte der Kosten muß er mindestens übernehmen, sonst wird der
Ausschuß nicht darauf eingehen.«
Aber als die Verhandlungen
begannen, stellte sich heraus, daß der Staat nicht einmal ein Drittel zu
übernehmen bereit war. Es war leichter, Forderungen zu stellen als Hilfe zu
leisten. Dabei durfte man sich nicht einmal beschweren, denn der Staat gab
sowieso jedes Jahr einen Beitrag von mehreren tausend Mark für die Kosten des
Betriebs.
So wurde die Sache vertagt. »In
Stetten muß man das Warten lernen.« Hausvater Kölle hatte recht gehabt. Es galt
nicht nur für die Kinder und Kranken.
Inzwischen wuchs die Not. Nicht
nur neue Anfragen kamen; alte wurden wiederholt.
»Zum drittenmal schreibe ich
nun, wie schon in den letzten beiden Jahren: Erbarmen Sie sich der
siebzehnjährigen Marie M. Ihre Lage wird immer trostloser. Ihre Eltern lassen
sie, um ihrem Geschäft nachgehen zu können, fast den ganzen Tag liegen. Früher
durfte sie doch noch ein wenig herumgehen, wozu freilich, da sie auch blind
ist, eine Aufsicht nötig wäre. Die Ortsbehörde hofft, daß dieses bedauernswerte
Geschöpf doch nicht mehr zu lange warten müsse.«
Aber der Inspektor mußte
antworten: »Wir können nicht...«
Ein Freund aus der Studentenzeit,
der auf seine persönlichen Beziehungen hoffte und sich zugleich auf die Bibel
berief, schrieb: »Wieder poche ich an wegen des längst angemeldeten Mädchens.
Heißt es nicht bald: ›Aber um des unverschämten Geilens willen‹? Das Mädchen
kommt immer mehr in Verwahrlosung und Verrohung hinein und bringt auch ihre
gleichfalls nicht vollsinnigen Geschwister in Gefahr. Tu dem alten Freund den
Gefallen, hilf, wenn es möglich ist, daß das Mädchen baldigst in Eure Anstalt
komme, heraus aus den traurigen häuslichen Verhältnissen.«
Aber der Inspektor mußte
schreiben: »Wir können nicht...«
Eines Tages sagte er zu seiner
Frau:
»Weißt du, wie ich mir
vorkomme? Wie einer, der von vorn und von hinten angegriffen wird, von vorne
kommen die Bittsteller und von hinten — da lies!«
Er zeigte ihr einen
Zeitungsausschnitt, in dem die Anstalt in gehässiger Weise angegriffen wurde.
Es herrsche ein enger pietistischer Geist in ihr, die Kinder würden mit
Bibelworten gefüttert, die sie nicht verständen, die erwachsenen Kranken lebten
wie in einem Gefängnis und hätten keinerlei Freiheit. Die Leitung der Anstalt
läge besser in der Hand des Arztes statt des Pfarrers usw.
Frau Schall legte das Blatt auf
den Tisch. Sie konnte sich denken, wie sehr dieser Angriff aus dem Hinterhalt
ihren Mann
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