Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
quälte. »Das ist gemein«, sagte sie, »aber die beste Antwort ist,
wenn du schreibst: ›Komm und sieh!‹ Die Leute wissen ja gar nicht, wie es bei
uns in Wirklichkeit zugeht.«
»Zuerst wollte ich eine scharfe
Entgegnung schreiben, aber Mißtrauen kann man nur durch die Tat widerlegen. Nur
kommen die Leute, die solche Artikel schreiben, leider nicht zu uns.«
»Dann mußt du darüber
schreiben, und wenn’s in deinem nächsten Jahresbericht wäre. Den schickst du
der Zeitung und streichst die betreffende Stelle rot und dick an, damit sie’s
nicht übersehen. Und wenn du ein übriges tun willst, dann setzt du noch hinzu:
wo so viel Unkenntnis und Mißtrauen sei, könnest du nur sagen: ›Komm und sieh!‹«
Dies trug sich kurz vor
Weihnachten zu. Das hatte sein Gutes, denn über all den Vorbereitungen auf das
Fest hatte der Inspektor gar keine Zeit, sich lange darüber zu bekümmernm.
Wenn er und seine Frau in
diesen Tagen durch die Häuser gingen, trafen sie überall auf erwartungsvolle
Gesichter, strahlende Augen und geheimnisvolle Vorbereitungen. Es war wie in
einer großen Familie, wo eins das andere mit seiner Freude ansteckt und wo
unsichtbare Boten unterwegs sind, um Frieden zu stiften zwischen hitzigen
Gemütern und schwierigen Dickköpfen.
»Was wird das Christkind
denken, wenn du so häßlich bist!« hieß es da, und: »Das wird das Christkind
freuen, wenn ihr so lieb zueinander seid!« hieß es dort.
Das Christkind ist da, das Kind
in der Krippe, von dem alles Licht, alle Liebe in dieser Welt ausgeht. Das Kind
in der Krippe, das man wieder sehen wird am Heiligen Abend in der festlich
erleuchteten Schloßkapelle, im Lichterglanz des Christbaums, in der einst vom
König gestifteten Krippe, die jedes Jahr aufs neue wie vom Himmel gefallen von
den Kindern bestaunt wird. Sie wissen es: Da hat sich etwas Besonderes
zugetragen, da ist jemand zu ihnen gekommen, gerade zu ihnen, jemand, der sie
lieb hat wie sonst niemand in der Welt.
Kein Wunder, daß der
Gottesdienst am Heiligen Abend für sie der schönste des ganzen Jahres ist.
Nach der Feier in der Kapelle
geht es gleich in die Häuser, wo für Knaben und Mädchen, für alt und jung die
Bescherung gehalten wird. Die Post hat so viele Pakete gebracht, daß Hausväter
und Hausmütter zueinander sagen: »Will es denn gar kein Ende nehmen?« So viel
Liebes und Schönes von meist unbekannten Gebern ist zusammengekommen, daß die
Kinder erstaunt vor ihren Tischen stehen und ungläubig fragen: »Das gehört
alles mir?«
Es gibt nichts Beglückenderes,
als an diesem Abend von Haus zu Haus, von Stube zu Stube zu gehen und überall
an der Freude teilzunehmen. Man sieht Bilder, die man nicht mehr vergißt. Die
es miterleben, meinen: Wer heute ohne Weihnachtsfreude ist, der müßte zu uns
kommen und mit uns diesen Weg von Haus zu Haus, von Baum zu Baum, von Glück zu
Glück mitgehen. Wo gibt es in der Welt so viel kindliche Freude wie hier, die
sich auf jede Weise und ohne jede Scheu äußert?
Da ist der Fritz, in der ganzen
Anstalt als Vielfraß bekannt und darum gelegentlich auch »Kutterfaß« genannt,
weil er sich alle Speisereste zu Gemüte führt. Er sieht auch jetzt nichts
anderes als seinen Teller mit »Gutsle«, und wenn man ihm nicht Einhalt geböte,
würde er ihn schon am Heiligen Abend leer futtern.
Der Karl aber steht abseits, er
liest beim Kerzenschein den Brief von zu Hause, von seiner Mutter; der ist ihm
das wichtigste von allen Geschenken, und er kann darüber die ganze Stube mit
ihrem Jubelgeschrei vergessen.
Die Marie hat in der Halskrause
eines schönen neuen Kleides ein Bildchen entdeckt, auf dem ein Engel seine
Hände segnend über ein schlafendes Dorf ausbreitet, und sie ist eben dabei, den
Vers zu buchstabieren, der darunter steht: »Stell uns die güldnen Waffen ums
Bett und deiner Engel Schar«. Sie kann sich nicht satt sehen und streckt es
jedem hin und sagt mit zärtlicher Stimme: »Guck, guck, schön, schön!« Das
Bildchen freut sie mehr als Kleid und Schuhe und Teller.
Der Christian aber steht
bitterlich heulend an seinem Platz, die Hände auf dem Rücken, nachdem sie alles
durcheinander gewühlt und lange gesucht haben. Er findet das Taschenmesser
nicht, das er sich doch so brennend gewünscht und das ihm die Mutter nicht
geschickt hat, weil er noch zu klein dafür sei. Vergebens macht ihm der
Hausvater klar, daß erst die großen Buben, die konfirmierten, ein Messer
bekommen, weil sie dann nicht mehr sich und andere damit
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