Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Trost
verabreicht würden, daß der Erfolg der Kur sich erst nach geraumer Zeit zeigen
werde.
Es vergingen Jahre, in denen
sich der Arzt damit trösten mußte, daß in höchstens zehn Prozent der Fälle eine
wirkliche Besserung oder gar Genesung erreicht wurde. Schon hatte er sich an
den Gedanken gewöhnt, daß eine umsichtige Pflege das beste sei, was für die
Kranken in der Anstalt geschehen könne, da sie eine solche zu Hause doch
niemals gefunden hätten, und daß man sie auf diese Weise wenigstens
»konservieren«, d. h. vor weiterem körperlichen und geistigen Verfall bewahren
könne.
Aber dann lesen wir plötzlich:
»Wir haben seit sechs Monaten Erfolge erlebt, die wir bisher für unmöglich
gehalten haben; wir haben gesehen, daß Fälle, die sich trotz jahrelanger
Behandlung fort und fort verschlimmerten und uns als hoffnungslos erschienen,
plötzlich eine Wendung zum Guten nahmen.«
Was war geschehen?
Ein Beispiel für viele:
Christine war einst mit elf Jahren elend, blaß und ganz verschüchtert in die
Anstalt gekommen. Sie war die älteste von sechs Geschwistern und hatte daheim
fast täglich erlebt, wie der Vater in seiner Betrunkenheit die Mutter schlug,
mit dem Messer auf sie losging, ja, der ganzen Familie den Tod androhte. Kein
Wunder, daß sie in der Anstalt auflebte, wo Liebe und Friede sie umgab, daß die
Anfälle nachließen und schließlich ganz ausblieben. Gegen den Willen des Arztes
nahmen die Eltern sie wieder nach Hause, wo noch die gleiche schlimme
Atmosphäre herrschte. Es kam, wie der Arzt vorausgesehen hatte: sie wurde
rückfällig. Nach zwei Jahren mußte man sie wieder in die Anstalt aufnehmen.
Täglich hatte sie zwei oder drei Anfälle.
Sie war so glücklich, daß sie
wieder unter Menschen leben durfte, wie sie sagte. Sie war jetzt fünfzehn Jahre
alt und hatte daheim keine Schule mehr besucht. Es war ihr sehnlichster Wunsch,
wieder zur Schule gehen zu dürfen, um alles nachzuholen, was sie in der
Zwischenzeit versäumt hatte. Ja, wenn nur die Anfälle weggeblieben wären! Sie
weinte bitterlich, als der Arzt ihr sagte, daß sie sich zuerst wieder
eingewöhnen müsse, ehe sie die Anstaltsschule besuchen könne. Aber dann fügte
er hinzu: »Wenn du jeden Tag brav das Pulver schluckst, das ich dir jetzt
verordne, dann wirst du bald gesund werden.« Sie versprach es und schluckte
gehorsam und unverdrossen dreimal täglich.
Es mochten vier Wochen
vergangen sein, als sie dem Doktor im Hof begegnete und ihm strahlend
verkündete: »Ich habe schon drei Tage keinen Anfall gehabt.«
»Siehst du, ich hab es dir ja
gleich gesagt. Mach nur so weiter!«
Als sie dann zur nächsten
Untersuchung kam und etliche Wochen frei von Anfällen gewesen war, sagte ihr
der Doktor: »So, jetzt darfst du wieder in die Schule gehen. Freust du dich?«
Wieder strahlte sie mit dem
ganzen Gesicht. Aber plötzlich verdunkelten sich ihre Augen: »Gelt, Herr
Doktor, ich muß nicht mehr heim?«
»Von uns aus gewiß nicht. Jetzt
mußt du zunächst alles nachholen, was du in der Schule versäumt hast.«
Das machte ihr keine Mühe, denn
ihr geistiges Leben hatte noch nicht gelitten. Sie wurde konfirmiert und blieb
als fleißiges und williges Mädchen in der Anstalt. Ihre Eltern konnten sie
nicht mehr holen. Der Vater saß im Gefängnis, die Mutter war gestorben, und
ihre Geschwister hatten bei Verwandten Unterkunft bekommen.
Das war nur ein Fall unter vielen,
vielen anderen, in denen Dr. Häberle durch ein neues Mittel, das anderwärts
schon erprobt worden war und das er nun systematisch und konsequent in hohen
Dosen verordnete, eine völlige Heilung und Genesung erreichte. Es hieß
Bromkali.
Man kann es verstehen, daß er
auf Grund solcher Erfahrungen sagte: »Es wäre gewiß im höchsten Grade
pessimistisch, wenn wir nicht auf diese günstigen Erfolge eine weitgehende
Hoffnung für unsere Kranken gründeten«, und daß er ein Jahr später voll Freude
und Stolz feststellte, die von ihm gewonnenen Resultate seien wohl geeignet,
die seitherige, fast allgemein geteilte, verzweifelte Ansicht über die
Heilbarkeit des Leidens zu erschüttern, sie berechtigten zu der Hoffnung, daß
das Los der Epileptischen nicht mehr so trostlos sein werde wie bisher. Selbst
in den besonders schlimmen Fällen, in denen eine Heilung nicht mehr möglich
sei, gelinge es nicht selten, »dem Weiterschreiten der Krankheit Einhalt zu
gebieten und mit der Ermäßigung der Anfälle den unausbleiblichen geistigen und
körperlichen Verfall
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