Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
schneiden können.
Schließlich wischt er sich die Tränen ab, während es ihm noch ganze Stöße gibt:
»Der Jakob hat mir seines auch schon geliehen, und es ist nichts passiert.« Da
muß ihm eben der Hausvater versprechen, daß er der Mutter schreiben wolle, ob
sie ihm nicht vielleicht eines zu Ostern schenke, aber bis dahin muß der
Christian gut aufpassen, daß er sich nicht schneidet.
Während dieses Gesprächs hat
die Hausmutter dem Gustav zugesehen, der ständig in seinen Geschenken wühlt wie
ein Geizhals in seinen Schätzen, offenbar nur, um die Freude des Besitzers zu
genießen, und alles, was er sagt, ist immer wieder das eine: »Alles Gustävle, Gustävle
lieb.«
Und nicht weit von ihm steht
der August, der hat die Hände auf den Rücken gelegt und betrachtet schweigend
seine Schätze, als traute er sich nicht, sie zu berühren, weil sie sich sonst
vielleicht verflüchtigen könnten.
Der eine macht sich in lauten
Schreien des Entzückens Luft, der andere spielt stillvergnügt mit seinen
»Blöckle«. Hier packt einer schnell seine Habseligkeiten zusammen, schlingt den
Arm um sie und will sie in Sicherheit bringen, dort aber ist ein anderer im
Begriff, mit vollen Händen auszuteilen!
So offenbart sich gerade in den
Stunden des Glücks, was im Herzen des Menschen ist, und nirgends so unmittelbar
und so aufrichtig wie bei diesen Kindern.
Wenn dann die Hauseltern
endlich heimgehen, hat sich der Sternenhimmel der Heiligen Nacht über Tal und
Schloß gebreitet, und der Inspektor sagt zu seiner Frau, daß sie, die
Kinderlosen, reicher seien als viele Eltern.
Nachher sitzen sie noch mit ein
paar Mitarbeitern zusammen, die sie eingeladen haben, den Abend bei ihnen zu
verbringen, weil doch an diesem Abend niemand sich einsam und allein fühlen
solle. Im Lauf des Gesprächs sagt der Inspektor, die Arbeit, die hier geschehe,
komme ihm immer vor wie Tropfen, die unscheinbar und unauffällig, nicht auf
einmal und nicht mit Gewalt, sondern durch ihr beständiges Fallen den Stein
aushöhlten, bis sie schließlich die Erde erreichten, aus der das Leben wachsen
könne. Es gehe ihnen allen wohl wie ihm, daß sie manchmal nach dem Sinn ihres
Tuns fragten. Er wolle es ihnen in einem Bilde sagen, das ihm als früherem
Schwarzwald-Pfarrer vertraut sei. Es gebe im Schwarzwald viel hartes, mit
Flechten überzogenes Gestein, das in träger Ruhe daliege, Stein ohne Leben, von
keiner Kunst geformt. Das seien die Kinder, in denen das geistige Leben
erloschen zu sein scheine, die bloß noch gepflegt werden könnten. Aber es
fänden sich auch andere Steine, mit zartem Heidekraut überwachsen, das sich mit
einer dünnen Erdschicht begnüge und nicht tief wurzle. Mit ihnen vergleiche er
die Kinder, die ein wenig lesen und schreiben, auch arbeiten lernten und doch
im großen und ganzen Kinder blieben an Verständnis. Aber da und dort begebe es
sich doch, daß aus dem Gestein ein zartes Bäumlein wachse. Irgendwo aus einem
Riß habe sich der Samen entwickelt, die Wurzeln faßten Fuß, immer tiefer grüben
sie sich ein, und manchmal vermöchten sie sogar den Stein zu sprengen — Kinder,
die sich vielleicht spät entwickelten, aber ruhig und stet fortmachten, bis es
so weit sei, daß sie auf eigenen Füßen stehen könnten.
»Glaubt mir«, so schließt er,
»wie der Wald reich ist, unerschöpflich an wechselnden Gebilden, so ist auch
die Schar der uns Anvertrauten reich und vielgestaltig. Immer wieder begibt es
sich, daß beglückte Eltern uns ihre Dankschreiben schicken, so wie mir neulich
der Vater der Marie schrieb, die auf Weihnachten heimgeschickt wurde: ›Das hat
mit ihrem Erziehen die Heilanstalt getan!‹«
Alle lachen.
»Wißt ihr, an was der Brave
gedacht hat?«
»An die Lorelei, die mit ihrem
Gesang die Herzen betörte!«
»Nicht wahr, jetzt wissen wir,
was für eine Zauberkraft man uns zutraut.
Aber meistens wissen die
draußen nicht, woher wir unsere Zauberkraft bekommen. Das steht in keinem
Märchen aus uralten Zeiten — das ist das Geheimnis der Weihnacht.«
Als sie wieder allein sind,
sagt er: »So geht es also hinter ›Gefängnismauern‹ zu, wie bei uns heute abend.
Als ob hier nur mißvergnügte Kopfhänger herumliefen, die sich mit ihrem
Trübsinn gegenseitig anstecken!«
»Laß sie reden«, antwortet sie,
»denk daran, wie viele dir schon geschrieben haben, daß sie uns nicht dankbar
genug sein könnten, weil ihr Kind eine zweite Heimat auf »diesem schönen
Fleckchen Erde‹ gefunden habe, wie es
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