Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Gulden, die Graf Alexander Emil von Wartensleben
durch die Vermittlung des Johanniterordens gemacht habe, mit der Bedingung, daß
die Anstalt jederzeit aus ganz Deutschland zehn unbemittelte epileptische
Kinder bis zu sechzehn Jahren, deren Zustand noch auf Heilung oder Besserung
Aussicht habe, in Freistellen aufnehme.
Die Anstalt sei jetzt am Ziel
ihrer äußeren Entwicklung und räumlichen Ausdehnung angekommen, da sie 280
Pfleglinge aufnehmen könne, eine Zahl, die ohne Nachteil für das Ganze nicht
überschritten werden sollte. Dieser Bericht, so schloß er, sei nur eine
dürftige Hülle, hinter welcher eine innere, an vielen freudigen und ernsten
Erfahrungen reiche Geschichte ablaufe, welche ihrer Natur nach nicht an die
Öffentlichkeit gehöre. Aber für alle und besonders für die 78 in der Anstalt
tätigen Personen sei es immer wieder ein Gewinn zu erleben, daß die Anstalt ein
Unternehmen Gottes sei, der in ihr mit Barmherzigkeit, Gnade und Gericht walte.
Inspektor Landenberger war 56
Jahre alt, als er diesen Überblick gab. Er stand auf der Höhe seines Lebens und
Wirkens, das Gott sichtbar gesegnet hatte.
Zwei Jahre später, 1876 , bat er »in tiefer, innerer
Erregung«, wie er selbst sagte, die große Festversammlung, die sein 25jähriges
Amtsjubiläum in der Anstalt mit ihm feierte, daß sie mit ihm bekenne: »Ich bin
bei dir, spricht der Herr, daß ich dir helfe.«
Ein leichter Schlaganfall hatte
ihn etliche Monate zuvor getroffen und ihm zu verstehen gegeben, »daß sein
Leben ein Ziel habe und er davon müsse«. Er hatte sich wieder erholt und konnte
gerade noch sein Jubiläum mitten unter den Gästen feiern und mit letzter
Anstrengung seinen Jahresbericht vortragen. Für seine rastlose Arbeit im Dienst
an den Schwachen und Hilflosen hatte ihn der König auf diesen Tag mit der
Goldenen Verdienstmedaille ausgezeichnet.
Im Lauf des Herbstes und
Winters wiederholten sich die Schlaganfälle. Am 1 . Mai 1877 verließ er Stetten
und zog mit seiner Frau zu Verwandten nach Grunbach im Remstal.
Beim nächsten Jahresfest
gedachte der neue Inspektor in Dankbarkeit und Liebe seines Vorgängers. Auch
Dr. Häberle dankte dem Manne, der in die verworrenen Ansichten über das Wesen
der Idiotie Klarheit gebracht und, was an den Schwache sinnigen geschehen könne
und müsse, systematisch durchdacht und verwirklicht habe.
Nach jahrelangem Siechtum starb
Landenberger, der Schuhmeister von Gottes Gnaden, am 18. Februar 1880 in
Grunbach. Seine Frau und treue Gehilfin überlebte ihn um 24 Jahre.
Ströme des Segens sind von ihm
ausgegangen. Kinder und Kindeskinder haben sein Werk in Stetten, aber auch in
Bethel, in Pfullingen bei Reutlingen und in Zürich fortgesetzt.
ES BEGAB SICH ABER.
Mit diesen Worten beginnt der
Evangelist Lukas den Bericht von der Geburt Christi. Jedermann, der sie hört
oder liest, weiß sofort, daß da etwas Besonderes erzählt wird, etwas, wobei
Gott selbst seine Hand im Spiel hat.
Vielleicht war das der Grund,
weshalb der neue Inspektor, Pfarrer Schall, diese Worte so liebte.
Daß der Ausschuß zum Nachfolger
des erkrankten Johannes Landenberger einen Pfarrer bestellte, war nicht selbstverständlich.
Es hatte aber seinen guten Sinn. Je mehr die Anstalt wuchs, um so mehr bedurfte
sie eines Geistlichen, der nur für ihre Insassen da war, sie alle persönlich
kannte, von ihren Freuden und Leiden wußte, ihnen Gottes Wort verkündigte und
als »Inspektor« überall nach dem Rechten sah. Noch etwas war dem Ausschuß wichtig:
Neben dem Arzt und dem Verwalter sollte der Pfarrer als Mitvorstand darüber
wachen, daß der Geist der Liebe Christi, der die Anstalt ins Leben gerufen
hatte, auch weiterhin in ihr wehte.
Es verging fast kein Tag, an
dem der Inspektor nicht einen Brief bekam, aus dem der Menschheit Jammer ihn
ansprach. Bald war es ein Pfarrer, bald ein Schultheiß oder ein Lehrer, oft
waren es auch die Eltern selbst, die ihm ihr Leid klagten und um Hilfe baten.
»Damit der Bub nicht auf die Gasse kann, wird er den ganzen Tag eingesperrt,
teils in einer Dachkammer, teils in einer Küche. Dabei bekommt er wenig zu
essen, wird überhaupt soviel wie möglich verwahrlost. Infolge dieser Behandlung
ist der Knabe körperlich heruntergekommen. Seine geistigen Fähigkeiten drohen
ganz unterzugehen. Das Kind heult in seinem Arrest den Tag über jämmerlich, und
zwar in Tönen, die an die eines eingesperrten Hundes erinnern. Den Eltern wäre
es offenbar ganz willkommen, wenn der Knabe bei
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