Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Veranda in die
Sonne gebettet werden konnte!
Das Jahresfest am 21. September
wurde in aller Stille mit einer gottesdienstlichen Feier in der Kapelle
begangen. Es gab ein Festessen in den Häusern, von der Jugend freudig begrüßt,
dann wurde noch ein Spaziergang auf die Höhe, durch den herbstlichen Wald
gemacht, so daß bei der Rückkehr eines der Kinder sagte: »‘s isch au so schö
gwea!«
Auf den verregneten Sommer
folgte ein schöner und milder Herbst; noch am 24. November fanden sich blühende
Trauben im Garten. Da mußte die Seuche das Feld räumen.
Im Jahr darauf war der 21.
September ein um so schönerer Festund Freudentag.
Denn Charlotte, die Königin von
Württemberg, hatte ihren Besuch angesagt.
Es war ein richtiger
Septembertag: Die Sonne hatte den Nebel vertrieben, wolkenlos blaute der
Himmel, von allen Häusern flatterten die Fahnen im Morgenwind, und im Schloßhof
standen in langen Reihen die Pflegebefohlenen, voller Vorfreude auf den
außergewöhnlichen Besuch. Erwartungsvoll standen auch die Stuttgarter
Ausschußmitglieder da, samt Inspektor, Arzt und Verwalter, alle im schwarzen
Gehrock und Zylinder.
Als kurz nach 9 Uhr die
blitzblanke schwarze Chaise in den Schloßhof fuhr und bei der Gruppe der Herren
hielt, sprang ein Lakai vom Rücksitz und öffnete den Wagenschlag. Feierlich
nahmen die Herren ihre Zylinder ab und stellten sich in einer Linie auf.
Langsam entstieg die Königin dem Wagen. Zuerst sah man nichts von ihr als einen
großen Hut mit breiter Krempe und einer wallenden Feder. Sie trug ein dunkles
Kleid und einen ebensolchen Mantel, wartete einen Augenblick, bis auch ihre
Hofdame und der Oberhofmeister aus dem Wagen gestiegen waren, dann trat sie auf
die ihr bekannten Herren aus Stuttgart zu, reichte ihnen die Hand und ließ sich
die übrigen vorstellen. Jeder erhielt einen kräftigen Händedruck. Dann wandte
sie sich den Kindern zu: »Das also sind Ihre Schutzbefohlenen?« Ohne Zaudern
schritt sie die Reihen entlang mit jugendlich federndem Schritt — sie war ja
erst 31 Jahre alt — , aus freundlichen dunklen Augen die Kinder aufmerksam
betrachtend. Hier strich sie einem rotbackigen Buben über die Haare, dort
streifte sie die bleiche Wange eines Mädchens oder hob mit dem Zeigefinger
leicht das Kinn eines Kindes zu sich empor. Währenddessen läuteten die Glocken
der Kapelle, und der Posaunenchor blies ein geistliches Lied.
Nun wurde die Schloßkapelle
besichtigt, die einst von der Herzogin Magdalene Sibylle erbaut worden war, und
obwohl man sich erst im September befand, hatte man auch die Weihnachtskrippe
aufgestellt, das Geschenk des einstigen Königs Karl. Sie betrachtete sie lange
und andächtig.
Dann ging es in die Schule, wo
Oberlehrer Thumm mit der untersten Klasse eine Religionsstunde halten sollte
über die Geschichte von dem reichen Mann, der dem Armen sein einziges Schäflein
wegnimmt.
Es waren fast mehr Erwachsene
als Kinder in der Schulstube. Die Kleinen starrten neugierig die vornehmen
Damen und Herren an, bis eines plötzlich rief: »Die hat aber einen großen Hut
auf«, was die Königin lächelnd bestätigte, indes Herr Thumm wie auf Kohlen
stand.
»Fangen Sie nur an, Herr
Oberlehrer«, sagte die Königin und half ihm damit aus der Verlegenheit.
Er begann zu erzählen, wie nur
er es konnte, von dem reichen Mann mit seinen vielen Schafen, seinen Rindern
und Pferden, seinen Knechten und Mägden, dem großen Stall und Hof voller Gänse
und Hühner und vor allem seinem schönen, großen Haus. Da fingen die Kinder von
selber an, sich seinen Reichtum auszumalen, seinen mächtigen Haufen Geld, sein
gutes Essen und den Garten mit dem Springbrunnen, so hoch wie bei ihnen im
Schloß. Zu arbeiten brauchte er nicht; er lebte herrlich und in Freuden.
»Nicht weit von ihm wohnte der
arme Mann, in einer kleinen Hütte. Er hatte viele Kinder, aber nur einen
kleinen Verdienst. Wovon mochten sie leben? Vielleicht mußte er Bäume fällen im
Wald oder war er Steinklopfer auf der Straße oder er ging in die Fabrik oder
schaffte beim Bauern. Zum Mittagessen gab es immer Kartoffelsuppe und abends
Kaffee und trockenes Brot. Die Betten reichten nicht für alle Kinder, sie
mußten zu zweit und zu dritt in einem schlafen.«
Da streckte der kleine
Christian die Hand: er habe daheim auch kein eigenes Bett gehabt, sondern mit
seinem Bruder in einem Bett geschlafen; den ganzen Tag habe man ihn eingesperrt
und ihn abends ohne Essen ins Bett geschickt. Und oft habe sein Vater —
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