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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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auf das, was sie
bekümmert, und nicht alles, was sie vorbringen, leichten Sinnes beiseite
schieben, nicht bloß unter ihnen, sondern mit ihnen leben, sich in ihre
Gesinnungs- und Anschauungsweise versetzen und zu ihnen hinuntersteigen, nichts
für zu gering und zu unbedeutend halten und für jeden, auch den kleinsten
Fortschritt ein Auge haben...
    Komm und sieh! Wie die beiden
Handwerksburschen, die uns im letzten Sommer besuchten. Eines Mittags kamen sie
in unsere Schloßküche und baten um einen Teller warme Suppe. Da sie einen
ordentlichen Eindruck machten, bekamen sie ein reichliches Mittagessen und zum
Abschied jeder noch einen Zehrpfennig in seinen Geldbeutel. Als sie die
Schloßkapelle besichtigten und den Opferstock stehen sahen mit der Aufschrift ›Für
die Armen im Hause‹, kratzten sie ihre roten Heller zusammen und warfen sie
ein. Sie hatten so ein paar arme Gestalten im Hof im Schatten sitzen sehen und
dachten wohl, daß sie denen gegenüber noch immer reich seien mit ihren gesunden
Gliedern und Sinnen. Als sie die Anstalt verließen, wurde eine Kranke im
Rollstuhl an ihnen vorübergefahren, die sie freundlich anlächelte. Sie blieben
stehen, verneigten sich und zogen den Hut. ›Sie kann nicht sprechen‹, sagte die
Pflegerin, ›aber sie freut sich sehr über Ihren Gruß.‹ — ›Das sieht man‹,
sagten die Burschen, ›sie fühlt sich wohl.‹ — Komm und sieh, wie wohl sie sich
fühlen!«
     
    Das ist ein halbes Sterben,
dachte der Inspektor, als die Stunde des Abschieds schlug. In der
Schloßkapelle, wo er so oft das Evangelium von der Liebe Christi verkündigt
hatte, wurde er verabschiedet.
    Auch der neue Inspektor,
Pfarrer Strebel, drückte dem alten zum Abschied die Hand.
     
    Wenige Monate nach dem Eintritt
des neuen Inspektors, im Jahre 1894, ging ein unheimlicher Gast in den Häusern
der Anstalt um: der Typhus!
    Im Juli und August regnete es fast
ununterbrochen; verschiedene Kinder erkrankten an Fieber, später auch junge
Leute und erwachsene Angestellte. Man stand vor einem Rätsel, bis die
Befürchtung zur Gewißheit wurde. Am 6. August starb ein fünfzehnjähriger Bub,
der an Epilepsie gelitten hatte und schon auf dem Weg der Besserung war. Als
das einzige Kind seiner Eltern sollte er im Herbst als geheilt entlassen werden
— da raffte ihn der Typhus hin.
    Am Abend dieses Tages ging es
in der Anstalt zu wie in einem gestörten Ameisenhaufen. Sämtliche Fieberkranken
aus allen Häusern wurden in einem noch leer stehenden Gebäude isoliert, das in
Eile als Krankenhaus eingerichtet wurde. Das war ein Rennen und Laufen, ein
Tragen und Schleppen, bis Betten und Kranke an ihrem Platz waren! Bald kehrte
Ordnung ein, der Tag- und Nachtdienst wurde geregelt, alles aufs sorgsamste
bedacht, einer weiteren Verschleppung der heimtückischen Krankheit durch alle
nur möglichen Vorsichtsmaßregeln vorgebeugt. Noch keine 24 Stunden waren
vergangen, da schickte das Stuttgarter Diakonissenhaus zwei Krankenschwestern
zu Hilfe, die wegen ihres anstrengenden Dienstes später durch zwei andere
abgelöst wurden. Neun Wochen lang versorgten sie zusammen mit den Pflegern und
Pflegerinnen die Kranken, im ganzen 29, nämlich 20 Pfleglinge und 9
Angestellte, darunter vier Pflegerinnen.
    Die Epidemie dauerte drei
Monate. Drei Pfleglinge starben. Der ärztliche Bericht des Dr. Habermaas
lautete lakonisch: Ȇber die Entstehung konnte nichts ermittelt werden. Das
Trinkwasser wurde einer chemischen und bakteriologischen Untersuchung
unterworfen und erwies sich als vollständig rein.«
    in diesen Wochen lag eine
dunkle Wolke über der Anstalt. Es war ein schwerer Anfang für den neuen
Inspektor, der zu seinem Schrecken erfuhr, was es hieß, die Verantwortung für
mehr als 500 Menschen zu tragen. Aber er stand nicht allein. Von Anfang an
sollte er erfahren, daß die Gemeinschaft in Stetten gerade in der Not sich
bewährte. Wärter und Wärterinnen wetteiferten in Hingabe, Treue und Ausdauer.
Als einige von ihnen selbst erkrankten, warfen die anderen nicht etwa die
Flinte ins Korn, sondern sagten »nun erst recht« und blieben auf ihrem Posten.
Auch als das Dunkel sich langsam erhellte, ließen sie sich nicht ablösen,
sondern wollten die Kranken vollends gesund pflegen. Sie hatten ihnen, als sie
mit dem Tode rangen, beigestanden, jetzt wollten sie sich mit den ins Leben
Zurückkehrenden freuen. Welch ein Jubel war es immer wieder, wenn bei einem
Kranken das Fieber endlich nachließ und er zum erstenmal auf die

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