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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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die sie nicht ohne Gefahr für ein ersprießliches Gedeihen überschreiten
dürfe. Es konnte ihr ja nicht darum gehen, vor der Welt mit großen Zahlen zu
prangen. 400 Pfleglinge und 130 Angestellte — da war es gerade noch möglich, in
dem einzelnen Kind und dem einzelnen Helfer nicht bloß eine Nummer unter
vielen, sondern den lebendigen Menschen zu sehen, so wie ihn Gott geschaffen
hat.
    Es war eine andere Frage, die
ihn neuerdings immer mehr bewegte: Woher wird in Zukunft das Pflegepersonal
kommen? Die Zahl der in den Brüderanstalten ausgebildeten Diakone hielt nicht
Schritt mit den wachsenden Anforderungen. Schon gab es Anstalten, die über
einen allzu häufigen Wechsel klagten, und auf den Konferenzen der
Anstaltsleiter wurde immer wieder über diese Not gesprochen.
    Beim Bau des neuen Hauses hatte
der Inspektor die eisernen Träger gesehen, auf denen die mächtigen Wände ruhen
sollten. Mit ihnen verglich er von da an bei jeder Gelegenheit die Pfleger und
Pflegerinnen, die in der Anstalt ihren selbstlosen, hingebenden Dienst taten.
Es sei nicht gut für die Stabilität des Ganzen, wenn man diese Träger allzuoft
auswechseln müsse. Ein Lob allen denen, die treu, geduldig und unverdrossen auf
ihrem Posten aushielten und ihre Last durch Jahre und Jahrzehnte trugen!
    Nicht zuletzt um der
Angestellten willen war ja auch der Neubau notwendig gewesen. Jetzt erst konnte
die Anstalt so belegt werden, wie es dem Inspektor immer vorgeschwebt hatte:
das Gleichartige eng vereint, das nicht Zusammengehörende säuberlich getrennt.
Jetzt konnte man das Ganze leichter übersehen und die Reibungen im Getriebe
besser ausschalten. Wieviel leichter war zu arbeiten, wieviel unnötige Mühe
konnte man sich ersparen! Die notwendige Gliederung war erreicht, der
Schlußpunkt hinter die Aufbauarbeit gesetzt.
     
    Tag und Nacht hatte der
Inspektor in den letzten Jahren gearbeitet. Das rächte sich nun. Sein
Gesundheitszustand war nicht mehr der beste. Bei seiner Frau war es ähnlich.
Auch sie war unermüdlich tätig gewesen und hatte ihm viel Arbeit abgenommen.
Wie oft hatte sie in ihrer ruhigen, sachlichen Art Streitigkeiten zwischen
Kranken und Angestellten geschlichtet, wie oft war sie eingesprungen, wenn es
irgendwo an einer weiblichen Hilfe fehlte!
    »Es wird langsam Zeit, daß wir
an unseren Abschied denken«, sagte er zu ihr, als er daran ging, seinen
Jahresbericht für 1893 zu schreiben. »Das wird wohl mein Schwanengesang
werden.«
    Sie nickte. »Der Arzt meint es
auch, es werde bald für uns beide genug sein. Aber vergiß nicht, daß du noch
eine Antwort schuldig bist!«
    Er wußte, was sie meinte. Er
hatte es sich schon selbst vorgenommen.
    »Komm und sieh!« schrieb er.
»Sieh, was sich hier an Arbeit zuträgt! Mit dem Allereinfachsten fängt es an:
mit dem Abgewöhnen und Angewöhnen. Gewöhnen an Reinlichkeit, Ordnung,
Anständigkeit, Regelmäßigkeit, Anleitung zu Spiel und Arbeit, Nachhilfe beim
Sprechen, Lesen und Briefschreiben, beim Fertigen der wenigen Hausaufgaben. Bei
den Älteren das Überwachen bei Tag und Nacht, beim Spazierengehen und bei der
Erholung. Jedes einzelne Kind muß beobachtet, seine Eigentümlichkeit, seine
körperliche und seelische Tätigkeit studiert werden, der Schüchterne und
Einsilbige muß aufgemuntert, der Aufgeregte beruhigt, der Träge angespornt
werden, den Flattergeist muß man zur Sammlung anhalten, beim Launischen darf
man den Geduldsfaden nicht abreißen lassen, dem Reizbaren muß man alle Anstöße
aus dem Wege räumen oder ihm auch etwas einräumen, was sonst nicht gestattet
ist. Es ist nötig, stets zu beobachten, was durch bloße Triebhandlungen und
mangelndes Verständnis oder durch bewußtes Wollen veranlaßt ist; besonders bei
den Epileptischen ist wohl zu unterscheiden, wie weit Mangel an Selbstzucht,
Unachtsamkeit, Ungehorsam oder die Krankheit mit ihren unguten Wirkungen auf
Verstand und Gedächtnis, Willen und Gemüt störend eingreift. Es gilt um so
ruhiger und bestimmter zu bleiben, je unruhiger und widerwilliger der Kranke
ist, nicht alles zum Schlimmsten auszulegen, sondern durch überlegene Einsicht
und maßvolles Ansichhalten zu zeigen, daß man seine Aufgabe versteht und ihr
gewachsen ist; vollends nichts übelzunehmen und sich nicht beleidigt zu fühlen,
sondern sich stets zu vergegenwärtigen, daß man Kranke vor sich hat, die treue
Pflege, sorgfaltige Erziehung, besorgte Liebe und herzliches Mitleid von uns
fordern. Man muß freundlich und teilnehmend eingehen

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