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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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zu ihr sagten, aber sie
selbst verständigte sich nur durch Zeichen, sehr gewandt und ohne die
geringsten Hemmungen. Alle anderen Kinder sprachen, sie spielten mit ihr, sie
sprachen ihr vor, aber Ursel blieb stumm. »Ursel, schwätz doch was!« — »Ursel,
sag doch ›Mama‹, ›Papa‹!« Auch das Bitten und Betteln der Spielgefährten half
nichts. Oft kamen sie gesprungen und zeigten ihr etwas: »Ursel, was ist das?
Wie heißt das?« Ursel lachte und zuckte die Achseln.
    So wurde sie allmählich das
Sorgenkind der Klasse, über das sich alle verwunderten und bekümmerten und das
sie trotzdem lieb hatten, weil sie keine Spielverderberin war.
    Eines Tages — es waren schon
Wochen vergangen, seit sie in die Anstalt gekommen war und am Unterricht
teilnahm — stand sie hilflos mitten im Hof. Die Lehrerin hatte mit der Klasse
geturnt und die Kinder nun heimgeschickt. Sie sah die Ursel stehen und
hilfeflehend um sich schauen. Sie ging auf sie zu:
    »Was ist denn, Ursel?«
    Da kam es in höchster Not aus
ihrem Mund: »Schulsach!« (Die Kinder hatten ihre Bücher und Hefte alle in der
Schule gelassen.)
    In der Lehrerin jubelte es: Sie
hat gesprochen! Sie nahm das Kind in den Arm. »Ursel«, sagte sie liebevoll, »du
hast ja gesprochen! Sag’s doch bitte noch einmal!«
    Wieder kam es klar und deutlich
aus ihrem Mund: »Schulsach!« Und noch einmal mußte sie es sagen und sagte es
auch.
    »So, nun holen wir dein
Schulsach zur Belohnung, daß du gesprochen hast!« Aber als die Lehrerin
unterwegs sie aufforderte, das Wort »Schulhaus« zu sagen, blieb sie stumm; kein
weiteres Wort war aus ihr herauszubringen.
    Und doch war irgendwie der Bann
gebrochen. Wenigstens kam es von da an manchmal vor, daß sie der Lehrerin, die
sich mit so viel Liebe um sie bemühte, etwas ins Ohr flüsterte, als ob sie sich
schämte, laut zu sprechen, oder die anderen es nicht hören sollten. Nach
einiger Zeit flüsterte sie auch Worte vor sich hin, wenn man vor ihr stand, und
lachte dabei vergnügt, weil es ihr gelungen war, eine Antwort zu geben oder
einen Vers zu sagen.
    Schließlich sagte Fräulein H.,
die Lehrerin, eines Tages zu ihr: »Ursel, sprich doch einmal so, wie dein Vater
spricht, weißt du, ganz tief von unten herauf.« Sie versuchte es auch, aber es
hörte sich nur wie ein Brummen an, wie wenn sie einen Mann mit tiefer Stimme
nachahmen wollte; doch waren jetzt die einzelnen Wörter laut und deutlich.
Offenbar machte es ihr große Mühe, sie herauszubringen, ihr ganzer Körper und
insbesondere der rechte Fuß arbeitete mit. Alle ihre Mitschülerinnen freuten
sich, wenn es ihr gelungen war, ein Wort auszusprechen, und merkwürdigerweise
lachte nie eine von ihnen über ihre seltsame Stimme oder äffte sie gar nach.
Sie hatten ja auch mit sich selbst genug zu tun.
    Zunächst war Ursel nur in der
Schule zum Sprechen zu bewegen. Im Heim schwieg sie beharrlich. Als sich die
Pflegerin einmal bei der Lehrerin darüber beklagt hatte, besuchte diese das
Mädchen im Heim. Sie erklärte Ursel, daß es sicher eine gute Übung für sie sei,
wenn sie auch daheim spreche, um so besser gehe es dann in der Schule. Sie
fragte sie nach dem Spruch, den sie zum Lernen aufgegeben hatte. Ursel holte
tief Atem und begann ihn langsam und deutlich aufzusagen, so daß die Kinder in
der Stube Beifall klatschten. Von da an sprach sie auch daheim, und man merkte
es deutlich, daß ihr das Sprechen von Tag zu Tag leichter fiel.
    Wieder waren einige Monate
vergangen, als Fräulein H. ihr eines Morgens die Tafel, die sie ihr zur
Durchsicht gegeben hatte, zurückreichte. Da kam plötzlich ganz von selbst, für
alle unerwartet, richtig artikuliert, aus ihrem Mund: »Danke!« Beide sahen sich
an, als wäre ein Wunder geschehen, das Kind fuhr sich schnell mit der Hand zum
Mund, als ob ihr ein Wort entschlüpft wäre, das sie nicht hätte sagen dürfen.
Dann aber lächelte sie vergnügt vor sich hin. Die Lehrerin nahm sie vor der
Klasse in die Arme: »Ursel, du hast ja ganz richtig gesprochen!« Sie wandte
sich zu den anderen Kindern: »Unsere Ursel hat richtig gesprochen. Jetzt
schreibt allein weiter. Ich muß mit Ursel noch weiter probieren.«
    Die Freude der Kinder war groß.
Seit Monaten hatten sie alles miterlebt, alle Mühen der Lehrerin, alle Versuche
der kleinen Ursel, die nur mühsam Schritt für Schritt vorwärtskam. Und jetzt
war auf einmal das Wunder geschehen; sie hatte richtig gesprochen, genauso wie
die anderen Kinder auch. Fräulein H. ließ sie das

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