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Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten

Titel: Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Teufel
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ein
besonderes Asyl geben für Kinder, die man nicht sogleich zweckmäßig
unterbringen konnte oder die es einfach nötig hatten, noch eine gewisse Zeit in
der Anstaltsfamilie zuzubringen, bis sie noch mehr körperliche und geistige
Kraft erlangt hatten und für einen Beruf noch besser vorbereitet waren? Schon
bei dieser ersten Konfirmation, der die »Entlassung ins Leben« folgte, wurde
ihm klar, daß der Wert und die Bedeutung der ganzen mühseligen Erziehungsarbeit
davon abhing, ob es gelang, diese schmerzliche Frage zu lösen. Eines Tages
sollte sie ihn dazu zwingen, sich nach einem größeren Hause für die
Erziehungsarbeit an seinen Kindern umzusehen.
    Einstweilen wurden ihm immer
neue pädagogische Erkenntnisse geschenkt, je mehr die Zahl der hilfsbedürftigen
Kinder wuchs, die in der Anstalt untergebracht werden sollten, je
vielgestaltiger die Fälle waren, die ihm und seinen Mitarbeitern wie Rätsel
vorgelegt wurden, ohne daß ihnen jemand von vornherein hätte sagen können, in
welcher Richtung die Lösung lag. Durch eigenes Beobachten, Nachdenken und
Experimentieren mußte die Methode gefunden werden, nach der in jedem einzelnen
Falle vorzugehen war.
    Sehr früh erkannte
Landenberger, daß es verschiedene Grade des Schwachsinns gab, von jenen
scheinbar hoffnungslos Blödsinnigen bis zu den eigentlich Schwachsinnigen,
deren Gemütsleben, wie bei einem normal veranlagten Menschen, beeinflußbar war.
    Aber gab es überhaupt
hoffnungslose Fälle? Hatte nicht auch der Blödsinnige gewisse Kenntnisse und
Fähigkeiten, einen »feinen Instinkt«, nur daß er nicht in der Lage war, von
sich aus weiterzukommen, z. B. von seinem eigenen Leib überhaupt Notiz zu
nehmen, ihn willkürlich zu bewegen oder gar zu beherrschen? Alle seine
Bewegungen waren ja mechanische, instinktmäßige, von seinen Trieben
aufgenötigte. Es konnte sein, daß er eben eine Bewegung ausgeführt hatte, wie
sie sein Trieb verlangte; aber machte der Lehrer sie ihm dann vor, damit er sie
nachahme, so war er nicht dazu imstande.
    Landenberger sann unablässig
über die Frage nach, wie ein Blödsinniger dazu veranlaßt werden konnte, seinen
Körper willkürlich zu bewegen. Es mußte doch irgendwie möglich sein, ihn aus
der Stumpfheit seines Gemütslebens herauszulocken, das Interesse, die Freude an
irgendeiner Tätigkeit in ihm zu erwecken.
    Eines Tages nahm er einfach den
Karl, den Gustav und den Christian bei der Hand und zeigte ihnen einen Ball. Er
warf ihn in die Höhe und fing ihn wieder auf, er ließ ihn auf dem Boden
hinrollen und bedeutete ihnen durch Zeichen, sie sollten ihn aufheben. Sie
starrten den Lehrer an, sie starrten den Ball an — aber keiner bewegte sich von
der Stelle. Da nahm er den Karl bei der Hand, führte ihn zu dem Ball, nahm
einen Finger nach dem andern in seine Hand und ließ ihn nach dem Ball greifen.
Er wollte nicht, er schloß die Finger, er ballte sie zur Faust. Aber die beiden
anderen waren aufmerksam geworden. Sie kamen langsam, zaudernd, scheu herzu,
als läge da am Boden irgendein gefährlicher Gegenstand. Und da der Karl nicht
zugreifen wollte, packte jetzt der Gustav den Ball und sah den Lehrer an, als
wollte er sagen: »Gelt, ich kann’s?!« Dann ließ er ihn fallen, und schon beugte
sich der Christian darüber, hob ihn auf und warf ihn weg.
    »Großartig«, sagte der Lehrer,
»du kannst es ja schon, Christian! Mach’s noch einmal!«
    Der Bub verstand zwar nicht die
Worte, aber die Zeichen, mit denen der Lehrer deutete. Jetzt griff auch der
Karl nach dem Ball, langsam, schwerfällig, als gälte es einen schweren Stein zu
heben. Aber er bekam ihn in die Hand, und nun geschah etwas Merkwürdiges: Er
trottete zum Lehrer hin und ließ den Ball vor dessen Füße fallen. Und schon
griff der Christian danach, und als ob eine Erleuchtung über ihn gekommen wäre,
warf er ihn in die Luft. Nun wollten ihn die beiden anderen holen und jeder ihn
haben. Da griff der Lehrer dazwischen:
    »Halt, halt, immer schön nach
der Reihe.«
    Er stellte sich mit den Buben
in einem Kreis auf und deutete ihnen an, seine Bewegungen mit Worten begleitend:
»So, jetzt kriegt ihn der Karl, dann der Gustav, dann der Christian, und der
gibt ihn mir!«
    Aber noch spurten die Kinder
nicht. Sie nahmen den Ball in die Hand und warfen ihn irgendwohin.
    »Jetzt müssen wir ihn suchen«,
sagte der Lehrer, »wo ist der Ball?«
    Und nun begann ein Spiel, an
dem die Buben von Tag zu Tag mehr Freude hatten; was heute nicht gelang, gelang
morgen oder

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