Das Schloß der blauen Vögel
Anfeindungen, Hetze, Untersuchungen von Ärztekommissionen, Anträge zur Schließung der Klinik, Anklagen bei der Staatsanwaltschaft – nur, daß sein Werk von innen her zerbrechen würde, das hatte er nie in Erwägung gezogen.
»Ich werde aus dem Labor HLN 101 holen.«
»Das ist unmöglich, wir kennen noch nicht die Folgen …« Dorian umklammerte die Fensterbank. »Es muß anders gehen. Ich will noch einmal verhandeln.«
»Es ist sinnlos! Was mit Angela geschieht, wissen wir! Um das zu verhindern, bleibt uns nur HLN 101! Es gibt keine andere Wahl. Angela weiß auch Bescheid.«
»In Gottes Namen!« Dorian senkte den Kopf tief auf die Brust. »Wir werden unsere Hemden ausziehen und uns vor das Gesicht binden. Junge, das ist eine schwere Entscheidung!«
»Es muß sein.« Dr. Keller wandte sich ab. Dr. Faber hinter ihm rang die Hände. Aus den Fenstern der Station I krachten jetzt Teile der Krankenbetten. Wie Schneewolken flogen Federn durch die Luft. Man hatte begonnen, die Plumeaus aufzuschlitzen, und spielte ›Frau Holle‹.
»Was ist HLN 101?« fragte Dr. Faber heiser.
»Ein Nervengas. Der Chef und ich laborieren seit zwei Jahren damit. Im Tierversuch waren die Ergebnisse gut. HLN 101 lähmt für eine bestimmbare Dauer die Erregungszentren im Hirn. Es ist ungefährlicher als Injektionen, läßt sich besser steuern und hat keine Nachwirkungen, auch bei Dauergebrauch. Mein Gott noch mal, soll ich Ihnen jetzt ein Kolleg halten?«
Dr. Keller wandte sich ab und rannte zu dem niedrigen Laborbau, den man dem Tierhaus angeschlossen hatte.
Eine halbe Stunde später näherten sich dem Schloß drei vermummte Gestalten. Wie bei Seuchen- und Pockenalarm hatten die Männer durchgehende Gummischutzkleidung an, eine Atemmaske vor dem Gesicht und dicke Gummistiefel an den Füßen. Die Hände staken in Gummihandschuhen. Auf dem Kopf trugen sie Gummikappen.
Die Kranken in den Fenstern starrten die drei Vermummten an und wußten nicht, wie sie reagieren sollten. Bademeister Hintzler erfaßte die Situation als erster.
»Weitermachen!« brüllte er. »Die wollen nur für das Schwimmfest trainieren!«
Der Federnregen aus den Fenstern begann von neuem.
Dr. Keller blieb am Eingang stehen. Dr. Faber und der Pfleger Hans Kruschinski neben ihm sahen ihn fragend an.
Langsam öffnete Dr. Keller die Tür und schob ein Stück Schlauch in den Vorraum. Unter dem Arm trug er eine rote Stahlflasche, die wie ein Feuerlöscher aussah.
Fast unhörbar, farb- und geruchlos, zischte das Gas HLN 101 aus dem Schlauch. Die drei Irren in der Pförtnerloge tanzten umher, der Wachtposten in der Halle spielte mit seinem Pantoffel Fußball. Da geschah das Merkwürdige: Wie in Zeitlupe wurden die Bewegungen der Kranken langsam und schwebend, sie taumelten, sanken in die Knie und fielen, als lasse man Luft aus ihnen ab, Zentimeter um Zentimeter in sich zusammen.
Dr. Faber und Pfleger Kruschinski starrten ungläubig auf dieses Schauspiel. Die Kranken lagen bewegungslos auf dem Boden, aber sie schliefen nicht. Sie hatten die Augen geöffnet und schienen alles, was um sie her geschah, wahrzunehmen, nur bewegen konnten sie sich nicht. Sie waren ein Haufen Fleisch geworden.
»Toll!« flüsterte Dr. Faber in seine tropfnasse Atemmaske hinein. »Einfach toll! Wenn so etwas die Regierung in die Hand bekommt und damit Demonstrationen bekämpft. Mein lieber Jolli!«
Ungerührt stieg Dr. Keller über den liegenden ›Melder‹ hinweg und ging zum Aufzug. Er wunderte sich selbst, daß der Aufzug noch funktionierte, und winkte seinen beiden Begleitern. Ungehindert fuhren sie zur Station I und trafen auf dem Flur drei Kranke, die dabei waren, mit Jod und einem Schrubber verworrene Gemälde an die Wände zu malen. Bevor sie schreien konnten, traf sie der Gasstrahl mitten in die aufgerissenen Münder. Sie drehten sich, wurden zu Zeitlupenpuppen und sanken um.
Von jetzt ab rollten Dr. Keller, Dr. Faber und Pfleger Kruschinski die Station systematisch auf. Während Faber und Kruschinski die Zimmer der Reihe nach durchgingen, rannte Dr. Keller zu Zimmer neun. Als er die Tür aufriß, saß Angela auf dem Bett. Bademeister Hintzler warf sich mit einem dumpfen Schrei herum: Wie ein Tier ahnte er die Gefahr. Mit hocherhobenen Fäusten stürzte er sich auf Angela, die sich mit dem Gesicht auf das Bett warf und Nase und Mund in ein nasses Handtuch drückte.
Lautlos umflutete das Gas die riesige Gestalt des kranken Hintzler. Seine Augen weiteten sich in grenzenlosem
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