Das Schloß der blauen Vögel
Bergen, und es war eine Stunde lang wie in der Blüte ihrer Liebe. Sie lagen nebeneinander, küßten sich, streichelten ihre Körper, fühlten ihr Blut in den Adern klopfen und spürten die Sehnsucht zueinander in ihrem schnellen Atem.
»Ich liebe dich«, sagte Sassner leise. »In deiner Nähe ist es, als stehe die Zeit still.«
Dann sah er in den blauen Himmel und war glücklich.
»Was schlägst du vor?« fragte Professor Dorian. Nachdem sich Dr. Hannsmann verabschiedet hatte und unbemerkt mit dem Chauffeur abgefahren war, benutzte Dorian die Stunde bis zum Abendessen, um seinen zukünftigen Schwiegersohn in die Therapie für Sassner einzuweihen. Dr. Keller, der die Krankengeschichte ebenso genau im Kopf hatte wie Dorian, sah an seinem Schwiegervater vorbei gegen die Wand.
»Wir werden die ganze Skala der Möglichkeiten abhandeln«, sagte er. »Zunächst müssen wir wissen, wie tief diese Spaltung des Ichs sitzt. Ich glaube, daß wir nach einem Elektroschock einen klaren Erfolg haben.«
Professor Dorian stand am Fenster und sah hinunter in den Park. Gerd Sassner kam von der Wiese zurück. Eng an ihn geschmiegt, von seinem Arm umfaßt, ging Luise. Sie kamen daher wie ein seliges Liebespaar.
»Ich werde in ihn eindringen«, sagte Dorian langsam. »Ich werde seine tiefste Seele nach oben kehren. Irgendwo in diesen Hirnwindungen sitzt ein Erlebnis, von dem er nicht loskommt und das nun hervorbricht mit elementarer Gewalt. Wir müssen ihn ausziehen, Bernd, seelisch völlig ausziehen …«
»Hypnose«, erwiderte Dr. Keller kurz.
Dorian nickte. »Ja. Morgen vormittag werde ich Sassner hypnotisieren. Ich muß diesen Benno Berneck kennenlernen … sonst ist alles verlorene Zeit.«
2
Das Abendessen fand im kleinsten Kreise statt. Professor Dorian hatte eingeladen; das Ehepaar Sassner, Dr. Keller, Dr. Kamphusen und Angela Dorian waren die einzigen Gäste. Man aß in einem Salon, dessen Rückwand fast nur aus einem riesigen Marmorkamin bestand. Sonst diente dieser Salon als Aufenthaltsraum für die Genesenden; heute war er gesperrt. Die meisten Patienten aßen auf ihren Zimmern, in denen sie sich nach ihren Vorstellungen eingerichtet hatten. Da gab es das Zimmer 19, wo ein Landgerichtsrat wohnte, der sich Lucius III. nannte und behauptete, ein römischer Kaiser zu sein. Er bekleidete sich mit dem Bettuch, das er wie eine Toga um sich wickelte, saß stundenlang vor einem großen Tisch und entwarf ein neues Rom, wozu er hölzerne Kinderbauklötzchen benutzte, und klagte mit erhobener Stimme immer wieder seinen Hofstaat an, daß man ihm keine Lustknaben zur Verfügung stellte.
»Was soll ein Imperator ohne sie?« schrie er. »Ist das ein Aufstand gegen mich? Jünglinge sind das Salz in der Suppe des schöpferischen Geistes …«
Dorian behandelte ihn mit Elektroschocks. In dieser Woche sollte ›Lucius III.‹ seinen zwölften Schock erhalten.
Nur wenige Kranke waren so harmlos, daß sie gemeinsam essen durften. Für sie gab es einen kleinen Speisesaal, ganz in bayerischem Barock gehalten. Die Tische waren weiß gedeckt, es wurde auf Silber serviert, von einem Tonband klang gedämpfte Tafelmusik durch den Raum. Menuetts, Schäfermelodien, tänzerische Capricen … eine Welt von Sorglosigkeit und schwebender Eleganz.
Die Kranken gaben sich nicht anders. Sie erschienen zum Abendessen durchweg in Gesellschaftskleidung, die Herren im Smoking, die Damen im festlichen Kleid. Vier Schwestern bedienten, drei Pfleger, im Frack wie Kellner aussehend und auch ebenso gewandt im Bedienen, beobachteten die Essenden auf unruhige Reaktionen oder plötzlich auftretende Wahnschübe. Wurde einer der Patienten zappelig, sprang auf, begann sich zu entkleiden oder warf die Teller an die Wand, kamen zwei befrackte Pfleger zu ihm, nahmen ihn in die Mitte und führten ihn aus dem Speisesaal. Die anderen aßen dann ungerührt weiter.
Alle Vorgänge wurden auf Tonband festgehalten und von einer versteckt zwischen Stuckputten angebrachten Kamera gefilmt. Tag für Tag. Dr. Kamphusen entwickelte dann die Filme im eigenen Fotolabor und führte sie Dorian bei den täglichen Oberarztbesprechungen vor. Sie gaben wertvolle Aufschlüsse über das Verhalten der Kranken, wenn sie allein waren, denn saß einer der Ärzte mit im Speisesaal, so merkte man deutlich, wie eine Art Gehorsam die Kranken durchrann und sie sich – soweit es ihnen möglich war – bezwangen. Irgendwo in der Tiefe ihrer Seele, in einer Windung ihres kranken Hirns, beherrschte sie
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