Das Schloß der blauen Vögel
begann ohne Zögern, Gerd Sassner auf den bisher noch an keinem Menschen vorgenommenen Eingriff im Gehirn vorzubereiten. Während Dr. Keller sich um die Stationskranken kümmerte und die Elektroschocks durchführte, fertigte Dorian zusammen mit Dr. Kamphusen eine Enzephaloarteriographie an, eine Röntgen-Kontrastdarstellung des Ventrikelsystems des Gehirns und des Subarachnoidalraumes, gekoppelt mit einem Arteriogramm, das eine Kontrolle des Gefäßverlaufs und der Blutversorgung im Gehirn zuläßt. Diese von den Ärzten Dandy 1918 und Moniz 1927 entdeckten Verfahren, aus einem im Röntgenbild als graue formlose Masse wirkenden Gehirn eine für den Mediziner faszinierende und überschaubare Landschaft zu machen, haben einen kleinen Schleier vom Geheimnis des Hirns wegreißen können.
Bei der Pneumenzephalographie wird durch eine Lumbalpunktion Liquor (Gehirn-Rückenmarkflüssigkeit) entzogen und durch eingespritzte Luft ersetzt. Die bisher unsichtbaren Hirnräume füllen sich mit Luft und werden auf dem Röntgenbild deutlich.
Die Arteriographie arbeitet ähnlich: Ein Kontrastmittel, meistens Jodverbindungen, wird in die freigelegte Arteria carotis communis injiziert … und plötzlich erscheinen auf dem Röntgenbild die Adersysteme des Gehirns, man kann Durchblutungsstörungen erkennen, Aneurysmen, Tumore.
Das Gehirn gibt einen Teil seiner Geheimnisse preis.
»Da ist etwas!« sagte Professor Dorian immer wieder, wenn aus dem Entwicklungsraum ein neues Röntgenfoto gebracht wurde. »Hier ist etwas! Sehen Sie sich die leichte Verschattung an, Kamphusen. Hier!« Er hielt die Fotos gegen den Lichtkasten und tippte mit dem Zeigefinger auf ein kleines Gebiet des sichtbar gemachten Gehirns. »Sehen Sie es?«
»Ganz deutlich, Herr Professor.« Der dickliche Kamphusen starrte auf die Fotos. Er sah nichts Ungewöhnliches, er sah eigentlich gar nichts, aber wer gibt das zu, wenn er ehrgeizig ist? »Sie hatten recht, Herr Professor: Es liegt eine traumatische Veränderung vor. Vielleicht ist ihm damals bei der Verschüttung doch ein Balken auf den Kopf gefallen.«
»Ganz sicher sogar! Ein kleines Hämatom, verhärtet und abgekapselt, auf unerklärliche Weise jetzt erst spürbar in der Auswirkung … das muß es sein!« Professor Dorian schob alle Röntgenfotos in den langen Lichtkasten, eine Galerie aus sichtbar gemachtem Gehirn. Ein Blick in das Geheimnis des Lebens, in den heiligen Raum, in dem die Seele lebt. »Es bleibt nur der Weg der Operation.«
»Ganz klar.« Der dickliche Kamphusen wischte sich über das Gesicht. Er dachte an die vielen Operationen an den Affen und Katzen, er dachte an den Gorilla Johann, der singen konnte wie ein Bariton. Er kannte Dorians Weg in das letzte Heiligtum des Menschen und taumelte hinter ihm her, mitgezogen in die Sonne des Ruhmes, die ihn wärmte, die er aber nicht verdiente. »Wann wollen Sie es machen, Herr Professor?«
»Nächste Woche Donnerstag. Sorgen Sie dafür, daß dann alles von mir ferngehalten wird.«
Am Abend dieses Tages saß Dorian still vor dem nicht angezündeten Kamin und trank langsam ein Glas Wein. Er sah stumm in das Glas, umklammerte es mit beiden Händen und hob nur einmal den Kopf, um seine Tochter anzusehen. Angela saß ihm gegenüber. Fast eine Stunde hatte sie ihren Vater angestarrt, ohne ihn anzusprechen.
»Du wirst die Instrumente übernehmen«, sagte Dorian plötzlich.
»Ja, Vater.« Angela atmete tief ein. »Und wer assistiert?«
»Natürlich Bernd.«
»Hast du schon mit ihm darüber gesprochen?«
»Nein. Ich möchte noch zwei Tage üben. Ich habe mit München telefoniert. Sie schicken mir fünf Hirne aus der Pathologie herüber.« Dorian beugte sich zu Angela vor. »In deinen Augen steht Angst, Kind …«
»Du wagst Ungeheuerliches, Vater. Ich habe Angst.«
»Und ich weiß, daß die Medizin bald einen anderen Weg gehen wird!« Dorian lehnte sich zurück und trank mit einem Schluck sein Glas leer. Dann stellte er es klirrend auf den Tisch zurück. »Medizin ohne Fortschritt ist Mord aus Trägheit! Wir werden nicht nur das Weltall erobern, sondern endlich auch uns selbst, den Menschen, erkennen. Ich werde am Donnerstag diesen Schritt in die Freiheit tun!«
Am nächsten Vormittag trafen Dorle und Andreas ein.
Der Chauffeur brachte sie nach Hohenschwandt.
Sassner breitete die Arme aus, als sie ihm entgegenliefen. Er sah stark und gesund aus, seine Haut war braun gebrannt, denn die meiste Zeit verlebte er jetzt draußen im Park. Nur mit
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