Das Schloss Im Moor
Untersuchung beendet; traurig ruhte des Spezialisten Blick auf der
Dame, die nun das Ergebnis wissen wollte.
Der Arzt wich durch einige Gegenfragen einer direkten Antwort aus und sprach: »Sie werden vor längerer Zeit das
Gefühl gehabt haben, als sei ständiger Nebel vor Ihren Augen?«
»Ja, Herr Doktor!«
»Sodann konnten Sie die Farben rot und grün nicht unterscheiden und sahen alles grau?«
Frau Helene nickte.
»Hatten Sie die Empfindung, als würden Sie durch eine Röhre sehen?«
»Das weiß ich nicht; geradeaus konnte ich verhältnismäßig noch gut sehen, was aber knapp vor
mir und unten war, nicht.«
»War in jener Zeit nicht auch häufiges Stolpern und Fallen mit der Abnahme der Sehkraft verbunden?«
»Leider ja, sehr häufig!«
»Und Gegenstände selbst vermochten Sie nicht zu sehen? Nur noch Schatten, etwa hell oder dunkel?«
»Jawohl!«
Der Arzt verstummte.
»Oh, Herr, ich bitte Sie, sagen Sie mir die Wahrheit! Ich weiß, ich bin im Erblinden, aber eine kleine
Hoffnung hege ich noch, und deshalb ließ ich Sie zu mir bitten. Ist Hilfe durch eine Operation möglich? Ich will
mich einer solchen willig unterziehen, ich habe alles Vertrauen zu Ihrer ärztlichen Kunst!«
Mit Mühe unterdrückte der erfahrene Spezialist eine Äußerung innigen Mitleides. Seine Worte hatten
einen heiseren Klang, als er sprach: »Eine Operation ist nicht angängig in Ihrem Falle, und leider kann ich Ihnen
wenig Hoffnung auf eine Besserung machen. Wenn Sie gestatten, möchte ich mit Ihrem Herrn Sohn sprechen!«
Die feinfühlige Dame verstand die Situation sofort und bemeisterte sich mit erstaunlicher Willenskraft. Gefaßt
erwiderte Frau Helene: »Ihr Wunsch, mit Theo zu sprechen, beweist mir, daß es für meine Augen keine Rettung
gibt und ich völlig erblinden werde. Diese Wahrheit wollen Sie zweifelsohne meinem Sohne mitteilen. Ich fühle
jedoch die nötige seelische Kraft in mir, die reine Wahrheit zu vernehmen, und bitte Sie, mir diese zu sagen!«
»Nicht doch, verehrte Frau Tristner! Es wäre unnötige Grausamkeit, wenn der Arzt dem Patienten jegliche
Hoffnung nehmen wollte. Der Mensch pflanzt ja immer noch eine Hoffnung auf . . .«
». . . selbst am Grabe noch! Zu solchen Menschen zähle ich nicht! Bitte, keine Verheimlichung, ich will die
Wahrheit wissen und bitte Sie ernstlich darum.«
»Es ist jede Aufregung gefährlich, jede Erregung bedingt eine Verschlimmerung!«
»Da ich nahezu gar nichts mehr sehe, kann eine Verschlimmerung nicht mehr von nennenswerter Bedeutung sein. Ich will
die Wahrheit kennen! Wie nennt die Wissenschaft mein Augenleiden?«
»Es kann gnädiger Frau nicht frommen, den lateinischen Terminus technicus zu wissen!«
»Aber die deutsche Bezeichnung will ich kennen. Halten Sie mich nur nicht für schwächlich, ich war das ein
langes Leben hindurch nicht und kann Schwereres ertragen.«
»Auf eine Verschlimmerung müssen gnädige Frau sich gefaßt machen, die Wissenschaft ist
außerstande, Hilfe zu bieten. Besondere Verhaltungsmaßregeln sind nicht zu treffen. Gott der Herr möge Sie
trösten und stärken! Ich bitte, nun mit Ihrem Sohn sprechen zu dürfen!«
Frau Helene senkte das Haupt und faltete die Hände.
Als die Tür ins Schloß gedrückt wurde und sie allein im Gemach war, flüsterte Frau Tristner:
»So will es der Herr, daß ich völlig erblinde, lichtlos den Rest meines Lebens verbleibe. Blind, ganz blind!
Oh, Herr, du strafst mich hart und schwer, doch dein Wille geschehe! Nacht um mich, immer trostlose Nacht! Die Kinder kann
ich nicht mehr sehen, nicht mehr den Grabstein meines Mannes! Oh, läge auch ich schon unterm Rasen gebettet in ewiger
Ruhe! Blind, blind für jeglichen Tag des erbärmlichen Lebens!«
Die lichtlosen Augen füllten sich mit Tränen, die hartgeprüfte Frau schluchzte, in bitterstes Weh
aufgelöst . . .
Noch nicht gesund, mußte Theo wohl noch auf seinem Zimmer verbleiben, doch konnte er schriftliche Arbeiten
dringender Natur erledigen. Mit fortschreitender Genesung fand die Pflege von Eugeniens zarter Hand ein Ende, und just diese
liebevolle Bemutterung vermißte der zärtlich veranlagte junge Mann schmerzlich. Kaum daß Eugenie sich ein-
oder zweimal des Tages blicken ließ, um nach etwaigen Wünschen zu fragen; jedem Versuch, sie zu einem
Plauderstündchen zu bewegen, verhielt sich die stillgeliebte Dame ablehnend gegenüber, sie schützte
häusliche Arbeit vor und entfernte sich immer so rasch, daß Theo seine Bettelei um
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