Das Schloss in Frankreich
dass dies ein schwer wiegendes Zugeständnis war. »Er war ein sehr guter Mann, liebender Vater und Gatte zugleich.«
Sie widerstand dem Drang, erneut von dem Raphael zu sprechen, denn sie wollte den feingewobenen Faden des Verständnisses nicht zerreißen. Die Gräfin nickte. Dann wandte sie sich an Christophe wegen der Abendgesellschaft.
Shirley nahm Zeichenpapier und Kreide zur Hand und skizzierte aufmerksam ihre Großmutter. Die Stimmen summten um sie herum, besänftigende, friedliche Laute, die zu der Atmosphäre des Gartens passten.
Sie dachte überhaupt nicht daran, der Unterhaltung zu folgen, sondern konzentrierte sich intensiv auf ihre Arbeit.
Als sie das fein geschnittene Gesicht und den überraschend verletzlichen Mund kopierte, entdeckte sie eine beachtliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und so auch mit sich selbst. Der Gesichtsausdruck der Gräfin war gelöst, von altersloser Schönheit und von Stolz geprägt.
Aber jetzt entdeckte Shirley einen Abglanz der Weichheit und Zerbrechlichkeit ihrer Mutter, das Gesicht einer Frau, die aufrichtig lieben konnte und umso verletzlicher war. Zum ersten Mal, seit Shirley den förmlichen Brief von ihrer unbekannten Großmutter erhalten hatte, fühlte sie Liebe für die Frau in sich aufkeimen, die ihre Mutter geboren hatte, und die damit auch verantwortlich für ihre eigene Existenz war.
Shirley war sich ihres lebhaften Mienenspiels nicht bewusst, und sie vergaß auch den Mann an ihrer Seite, der die Verwandlung ihres Gesichts beobachtete, während er die Unterhaltung mit der Gräfin fortführte.
Als sie die Arbeit beendet hatte, legte sie die Kreide in
den Kasten und wischte sich gedankenverloren die Hände
ab. Sie fuhr auf, als sie den Kopf wandte und Christophes durchdringendem Blick begegnete. Er betrachtete das Porträt auf ihrem Schoß und sah ihr dann wieder in die verwirrten Augen.
»Sie haben eine seltene Begabung, chérie«, sagte er leise. Verlegen zog sie die Stirn kraus, weil sein Ton nicht verriet, ob er ihre Arbeit meinte oder ein ganz anderes Thema.
»Was haben Sie gezeichnet?« wollte die Gräfin wissen. Shirley befreite sich von seinem unwiderstehlichen Blick und reichte ihrer Großmutter das Porträt.
Die Gräfin sah es eine Weile lang an. Ihr erstaunter Gesichtsausdruck veränderte sich dann in einer Weise, die Shirley nicht deuten konnte. Als sie die Augen wieder hob und sie auf sie richtete, lächelte sie.
»Ich fühle mich geehrt und geschmeichelt. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich dieses Bild gern kaufen«, ihr Lächeln vertiefte sich, »teilweise aus Selbstgefälligkeit, aber auch, weil ich ein Beispiel Ihrer Arbeit besitzen möchte.«
Shirley beobachtete sie einen Augenblick lang und befand sich im Zwiespalt zwischen Stolz und Zuneigung. »Es tut mir Leid, Madame.« Sie schüttelte den Kopf und nahm die Zeichnung wieder an sich. »Ich kann sie nicht verkaufen.«
Sie blickte auf das Papier in der Hand, ehe sie es der alten Dame wieder zurückgab. »Ich schenke es Ihnen, Großmutter.« Sie nahm das bewegte Mienenspiel der Gräfin in sich auf, bevor sie weitersprach: »Nehmen Sie es an?«
»Ja.« Das Wort klang wie ein Seufzer. »Ich werde Ihr Geschenk in Ehren halten.« Erneut blickte sie auf die Kreidezeichnung. »Es soll mich daran erinnern, dass Liebe wichtiger ist als Stolz.« Sie erhob sich und berührte mit den Lippen Shirleys Wangen, ehe sie wieder über den Steinfliesenweg zum Schloss zurückkehrte.
Shirley stand auf.
»Sie haben eine natürliche Gabe, die Liebe anderer Menschen zu gewinnen«, bemerkte Christophe.
Sie fuhr ihn erregt an: »Sie ist ebenfalls meine Großmutter.«
Ihm entging nicht, dass ihre Augen von Tränen verschleiert waren, und mit einer lässigen Bewegung erhob er sich. »Meine Feststellung war ein Kompliment.«
»Tatsächlich? Es klang eher nach einem Werturteil.« Sie verwünschte den Nebel vor ihren Augen. Sie wollte gleichzeitig allein sein und sich gegen seine breite Schulter lehnen.
»Immer befinden Sie sich mir gegenüber in Abwehrstellung, stimmt’s, Shirley?« Seine Augen verengten sich wie üblich, wenn er ärgerlich war. Aber sie war so mit dem Aufruhr ihrer Gefühle beschäftigt, dass sie nicht darauf achtete.
»Grund genug dafür haben Sie mir ja auch gegeben. Von dem Moment an, als ich den Zug verließ, haben Sie kein Hehl aus Ihren Gefühlen gemacht. Sie haben meinen Vater und mich verurteilt. Sie sind kalt und selbstherrlich und haben keinen Funken Mitleid oder
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