Das Schloss in Frankreich
Shirley den Anblick von Leinwand und Pinsel nicht ertragen, und sie mied das Atelier in der dritten Etage, wo sie und ihr Vater so viele Stunden verbracht hatten und ihre Mutter sie daran zu erinnern pflegte, dass selbst Künstler essen müssten.
Als sie schließlich allen Mut zusammennahm und den sonnendurchfluteten Raum betrat, empfand sie anstelle unerträglichen Kummers einen seltsam versöhnlichen Frieden. Das Tageslicht erfüllte den Raum mit Wärme, und die Erinnerung an ihr glückliches Leben von früher schien hier noch wach. Sie besann sich wieder auf ihr Dasein und die Malerei. Tony war ihr auf liebenswürdige Weise behilflich, die Leere auszufüllen. Dann kam jener Brief.
Inzwischen hatte sie Georgetown und Tony verlassen, auf der Suche nach der unbekannten Familie in der Bretagne. Der ungewöhnliche, formelle Brief, der sie aus der vertrauten Umgebung von Washingtons pulsierenden Straßen in die ungewohnte bretonische Landschaft geleitete, war sicher in der weichen Ledertasche an ihrer Seite verstaut. Diese Zeilen drückten keinerlei Zuneigung aus, sondern lediglich Tatsachen und eine Einladung, die eher einem königlichen Befehl glich.
Shirley lächelte leicht verstimmt darüber. Doch ihre Neugier auf nähere Informationen über ihre Familie war größer als ihr Verdruss über den Kommandoton. Impulsiv und zugleich wohl überlegt arrangierte sie die Reise, verschloss das geliebte Haus in Georgetown und ließ Tony hinter sich.
Protestierend schrillte der Zug, während er die Station Lannion erreichte. Prickelnde Erregung verscheuchte die Reisemüdigkeit, als Shirley ihr Handgepäck nahm und auf den Bahnsteig hinaustrat. Zum ersten Mal sah sie das Geburtsland ihrer Mutter. Fasziniert blickte sie um sich und nahm die herbe Schönheit und die weichen, schmelzenden Farben der Bretagne in sich auf.
Ein Mann beobachtete, wie sie konzentriert und lächelnd um sich schaute. Überrascht hob er die dunklen Augenbrauen. Er nahm sich Zeit, Shirley zu betrachten: Sie war groß, ihre Figur gertenschlank, und sie trug ein tiefblaues Reisekostüm. Der flauschige Rock umschmeichelte die schönen langen Beine. Eine weiche Brise glitt sanft durch ihr sonnenhelles Haar und über das schmale ovale Gesicht. Er bemerkte die großen bernsteinfarbenen Augen, die von dichten dunklen Wimpern eingerahmt waren. Ihre Haut wirkte unbeschreiblich geschmeidig, glatt wie Alabaster, empfindlich wie eine zarte Orchidee. Er würde sehr bald feststellen, dass Erscheinungsbilder dieser Art häufig trügerisch sind.
Er näherte sich ihr langsam, beinahe widerstrebend. »Sind Sie Mademoiselle Shirley Smith?« Er sprach englisch mit einem leichten französischen Akzent.
Shirley zuckte bei dem Klang seiner Stimme zusammen. Sie war so in das Landschaftsbild versunken, dass sie seine Anwesenheit nicht bemerkt hatte. Sie strich eine Haarlocke aus dem Gesicht, wandte den Kopf und sah in die dunkelbraunen Augen des ungewöhnlich großen Mannes.
»Ja.« Sie wunderte sich über die eigenartige Anziehungskraft seines Blicks. »Kommen Sie von Schloss Kergallen?«
Er zog eine Braue hoch. »Allerdings. Ich bin Christophe de Kergallen. Die Gräfin beauftragte mich, Sie abzuholen.«
»De Kergallen?« wiederholte sie erstaunt. »Also noch ein weiterer geheimnisvoller Verwandter?«
Seine vollen sinnlichen Lippen bogen sich kaum merklich. »Mademoiselle, wir sind sozusagen Cousin und Cousine.«
»Verwandte also.«
Sie schätzten einander ab wie zwei Degenfechter vor dem ersten Gang.
Tiefschwarzes Haar fiel auf seinen Kragen, und die unbewegten Augen hoben sich fast ebenso dunkel von seiner bronzefarbenen Haut ab. Seine Gesichtszüge waren wie gemeißelt. Seine aristokratische Ausstrahlung wirkte gleichermaßen anziehend und abstoßend auf Shirley. Am liebsten hätte sie ihn sofort mit einem Bleistift auf einem Zeichenblock festgehalten.
Er ließ sich von ihrem langen prüfenden Blick nicht beirren und hielt ihm mit kühlen, reservierten Augen stand. »Ihre Koffer werden später ins Schloss gebracht.« Er nahm ihr Handgepäck vom Bahnsteig auf. »Kommen Sie jetzt mit mir. Die Gräfin wartet bereits auf Sie.«
Er führte sie zu einer schimmernden schwarzen Limousine, half ihr auf den Beifahrersitz und verstaute ihre Taschen im Kofferraum. Dabei verhielt er sich so kühl und unpersönlich, dass Shirley gleichzeitig verärgert und neugierig war. Schweigend fuhr er los, während sie sich zur Seite wandte und ihn betrachtete.
»Und wie kommt es, dass
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