Das Schloss in Frankreich
auch wegen Ihrer Selbstsicherheit und Unabhängigkeit.«
Shirley sah sie erstaunt an. »Sie ziehen die Menschen an, mit Ihrer Offenheit und Ihren warmen Augen, die Vertrauen erweckend und verständnisvoll sind.«
»Das hätte ich nicht erwartet«, erwiderte Shirley fassungslos. »Genevieve, Sie sind doch so schön und warmherzig. Wie könnten Sie einen Menschen wie mich beneiden? In Ihren Augen muss ich ja eine Amazone sein.«
»Die Männer behandeln Sie wie eine Frau. Sie bewundern Sie nicht allein wegen Ihres Aussehens, sondern wegen Ihrer Wesensart.« Sie wandte sich ab, schaute aber gleich wieder zurück und strich sich über das Haar. »Was täten Sie, wenn Sie einen Mann liebten, ein ganzes Leben lang, mit dem Herzen einer Frau, der Sie aber nur wie ein amüsantes kleines Mädchen behandelt?«
Shirleys Herz zog sich zusammen. Christophe kam ihr in den Sinn. Du meine Güte, sie fragt mich um Rat wegen Christophe. Sie zwang sich, nicht hysterisch aufzulachen. Jetzt soll ich ihr einen Wink über den Mann erteilen, den ich liebe. Hätte sie meine Hilfe gesucht, wenn sie wüsste, was er von mir und meinem Vater hält? Sie sah in Genevieves dunkle Augen, die hoffnungsvoll und vertrauensselig auf sie gerichtet waren, und seufzte.
»Liebte ich einen solchen Mann, würde ich alle Mühe daransetzen, ihn davon zu überzeugen, dass ich eine Frau bin und auch als solche von ihm behandelt werden möchte.«
»Aber wie?« Genevieve spreizte hilflos die Finger. »Dafür bin ich zu feige. Vielleicht würde ich auf diese Weise selbst seine Freundschaft verlieren.«
»Wenn Sie ihn wirklich lieben, müssen Sie es wagen oder sich für den Rest Ihres Lebens allein mit seiner Freundschaft begnügen. Das nächste Mal, wenn dieser Mann Sie wie ein Kind behandelt, müssen Sie ihm zu verstehen geben, dass Sie eine erwachsene Frau sind. Sie sollten es ihn unbedingt wissen lassen, damit er nicht den geringsten Zweifel daran hat. Danach wird er sich dann richten.«
Genevieve atmete tief und schien erleichtert zu sein. »Ich werde darüber nachdenken.« Erneut blickte sie Shirley herzlich an. »Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir so freundschaftlich zugehört haben.«
Shirley beobachtete, wie sich die kleine graziöse Gestalt über den Rasen zurückzog.
Ich benehme mich wie eine leibhaftige Märtyrerin, sagte sie sich. Dabei dachte ich immer, dass Selbstaufopferung innere Wärme hervorruft. Stattdessen ist mir kalt, und ich fühle mich erbärmlich.
Sie sammelte ihr Handwerkszeug ein, weil ihr das Vergnügen, Sonnenschein zu malen, vergangen war. Ich glaube, ich werde das Märtyrertum aufgeben und mich künftig ausschließlich Witwen und Waisen widmen. Das kann auch nicht schlimmer werden.
Niedergeschlagen brachte Shirley Leinwand und Farben in ihr Arbeitszimmer hinauf! Mit allergrößter Anstrengung gelang es ihr, dem Dienstmädchen zuzulächeln, das eifrig frische Wäsche in die Fächer eines Schranks stapelte.
»Guten Tag, Mademoiselle.« Catherine begrüßte Shirley mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Guten Tag, Catherine. Sie scheinen offenbar sehr vergnügt zu sein.« Shirley beobachtete die triumphierenden Sonnenstrahlen am Fenster, seufzte tief und zuckte die Schulter. »Ein ausnehmend schöner Tag heute.«
»Ja, Mademoiselle. Ein herrlicher Tag.« Mit einer Hand voller durchsichtiger Seidenwäsche wies sie auf den Himmel. »Ich finde, dass die Sonne noch nie so schön geschienen hat.«
Unfähig, sich dieser aufreizend guten Laune zu entziehen, ließ Shirley sich auf einem Stuhl nieder und amüsierte sich über das glühende Gesicht der kleinen Magd.
»Wenn mich nicht alles täuscht, ist es die Liebe, die so hell und schön scheint.«
Catherine errötete leicht, und ihr Gesicht wurde dadurch noch hübscher. Sie unterbrach einen Augenblick lang ihre Beschäftigung und lächelte Shirley erneut zu. »Ja, Mademoiselle, ich bin sehr verliebt.«
»Und Ihrem Blick entnehme ich, dass Sie ebenfalls sehr geliebt werden.« Shirley bezwang ein leichtes Neidgefühl über so viel jugendliches Vertrauen.
»Ja, Mademoiselle.« Sonnenlicht und Glück hüllten sie ein. »Am Samstag werden Jean-Paul und ich heiraten.«
»Heiraten?« wiederholte Shirley leicht bestürzt, als sie die kleine Gestalt vor sich betrachtete. »Wie alt sind Sie, Catherine?«
»Siebzehn«, erwiderte sie, im Bewusstsein ihres hohen Alters.
»Siebzehn«, seufzte Shirley unwillkürlich und kam sich plötzlich vor, als wäre sie zweiundneunzig Jahre
Weitere Kostenlose Bücher