Das Schloss in Frankreich
und durchschaubar, übte kaum mehr als den leisesten Druck aus. Er war unendlich geduldig, und seine Pläne waren wohl überlegt. Was empfand sie für ihn? Zuneigung, Treue und Dankbarkeit dafür, wenn sie ihn brauchte. Eine milde, harmlose Liebe.
Und dann wanderte ihr Blick zu Christophe. Arrogant, herrschsüchtig, aufreizend und erregend. Er forderte, wonach ihm der Sinn stand, riss es an sich, verschenkte ein plötzliches, unerwartetes Lächeln und raubte ihr Herz wie ein Dieb in der Nacht. Er war launisch, Tony hingegen ausgeglichen. Er befahl, während Tony überzeugte. Tonys Küsse waren liebenswürdig und rührend. Doch Christophe küsste wild und berauschend, feuerte ihr Blut an und zog sie fort in eine unbekannte Welt von Sinnesempfindungen und sehnsüchtigen Wünschen. Die Liebe, die sie für ihn empfand, war keineswegs mild und harmlos, sondern stürmisch und unausweichlich.
»Wie schade, dass Sie nicht Klavier spielen, Shirley.« Die Stimme der Gräfin trieb sie in die Gegenwart zurück. Schuldbewusst zuckte sie zusammen.
»Oh Madame, Shirley spielt Klavier.« Tony lächelte breit. »Erbärmlich zwar, aber sie tut es.«
»Verräter!« Shirley lachte ihn fröhlich an.
»Sie spielen nicht gut?« Die Gräfin war fassungslos.
»Es tut mir Leid, Großmutter, dass ich der Familie
wieder einmal Schande bereite«, entschuldigte sich Shirley. »Aber ich spiele nicht nur schlecht, sondern ausgesprochen miserabel. Damit beleidige ich sogar Tony, der völlig unmusikalisch ist.«
»Mit deinem Spiel würdest du nicht nur die Lebenden beleidigen, mein Schatz.« Er strich ihr mit einer nachlässigen Geste eine Locke aus dem Gesicht.
»Wie wahr.« Sie lächelte ihn an, ehe sie sich wieder der Gräfin zuwandte. »Arme Großmutter, Sie sehen ja so betroffen aus.« Ihr Lächeln schwand, als sie dem kühlen Blick von Christophe begegnete.
»Aber Gabrielle hat doch so wundervoll gespielt.« Die Gräfin hob die Hand.
Shirley nahm sich zusammen und wich Christophes Blick aus. »Sie verstand auch nie, wieso ich derartig auf die Tasten hämmerte. Doch geduldig, wie sie nun einmal war, gab sie es auf und überließ mich meinen Farben und meiner Staffelei.«
»Außergewöhnlich.« Die Gräfin schüttelte den Kopf. Shirley zog die Schultern ein und trank ihren Kaffee. »Da Sie uns schon nicht vorspielen können, meine Kleine, würde Monsieur Rollins sich bestimmt darüber freuen, wenn Sie ihn in den Garten hinausbegleiten.« Sie lächelte hinterhältig. »Shirley liebt Gärten im Mondlicht, nicht wahr?«
»Das hört sich verlockend an«, stimmte Tony zu, ehe Shirley antworten konnte. Sie sah ihre Großmutter fest an, und dann ging sie Arm in Arm mit Tony in den Garten.
9. K APITEL
Zum zweiten Mal schlenderte Shirley mit einem großen, gut aussehenden Mann durch den mondhellen Garten, und auch jetzt wünschte sie sehnlich, es wäre Christophe. Schweigend genossen sie und Tony die frische Nachtluft und hielten sich vertraut bei den Händen.
»Du bist in ihn verliebt, nicht wahr?«
Tonys Frage zerriss die Stille wie splitterndes Glas. Shirley blieb stehen und sah ihn mit weit offenen Augen an.
»Shirley.« Er seufzte und strich mit einem Finger über ihre Wange. »Ich kann deine Gedanken lesen wie ein Buch, obwohl du mit aller Macht versuchst, deine Gefühle für ihn zu verbergen.«
»Tony, ich ...«, stammelte sie schuldbewusst und kläglich. »Du irrst dich. Ich mag ihn nicht einmal, glaub mir.«
»Du liebe Zeit.« Er lachte leise und zog eine Grimasse. »Ich wünschte, du würdest mich ebenso mögen wie ihn.« Er hob ihr Kinn.
»Bitte, Tony.«
»Du warst immer ausgesprochen ehrlich, Liebling. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Ich dachte, dass
ich dich mit Geduld und Hartnäckigkeit für mich gewinnen könnte.« Er legte einen Arm um ihre Schulter, als sie tiefer
in den Garten hineingingen. »Weißt du, Shirley, bei dir trügt der Schein. Du wirkst wie eine erlesene Blume, so zart, dass jeder Mann fürchtet, dich zu berühren, um dich nicht abzubrechen, doch in Wirklichkeit bist du erstaunlich stark.« Er drückte leicht ihre Hand. »Du strauchelst nie, Liebling. Ein Jahr lang habe ich gewartet, um dich aufzufangen, aber du stolperst nie.«
»Meine Launen und mein Temperament hätten dich zur Verzweiflung getrieben, Tony.« Aufseufzend lehnte sie sich an seine Schulter. »Ich könnte niemals die Frau sein, die du wirklich brauchst. Es wäre sinnlos gewesen, wenn ich versucht hätte, mich zu ändern.
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