Das Schloss in Frankreich
innerlich. Lieben Sie mich! »Nein«, rief sie laut und lief die Treppe hinauf. »Nein und nochmals nein.«
Sie jagte davon wie ein verfolgtes Rehkitz, öffnete die Schlafzimmertür, schlug sie heftig wieder zu und warf sich aufs Bett.
Die Tränen wirkten Wunder. Shirley wischte sie schließlich ab und fühlte sich wieder imstande, der Welt und der Zukunft ins Auge zu blicken. Sie betrachtete den achtlos hingeworfenen Briefumschlag aus Japanpapier auf ihrem Schreibtisch. Es war höchste Zeit, dass sie sich darum kümmerte, was der alte Barkley ihr mitzuteilen hatte. Shirley erhob sich widerstrebend und holte den Brief.
Dann legte sie sich erneut aufs Bett, öffnete das Siegel und ließ den Inhalt auf die Decke gleiten. Er bestand aus einem eindrucksvollen Firmenbogen, der sie sofort wieder an Tony erinnerte, und einem weiteren versiegelten Umschlag. Gleichgültig nahm sie die sauber mit der Maschine geschriebene Seite zur Hand und fragte sich, was für ein Formular sie denn nun schon wieder für den Familienanwalt auszufüllen hätte.
Nachdem sie den Brief gelesen und den völlig unerwarteten Inhalt zur Kenntnis genommen hatte, setzte sie sich kerzengerade auf.
Sehr geehrte Miss Smith,
hiermit übersende ich Ihnen ein Kuvert, das eine Nachricht Ihres Vaters enthält. Diesen mir anvertrauten Brief sollte ich Ihnen nur aushändigen, falls Sie mit der Familie Ihrer Mutter in der Bretagne Kontakt aufnähmen. Von Tony Rollins erfuhr ich, dass Sie sich zurzeit auf Schloss Kergallen bei Ihrer Großmutter mütterlicherseits aufhalten. Aus diesem Grund übergab ich Tony dieses Schreiben, damit Sie es so schnell wie möglich erhalten.
Hätten Sie mich über Ihre Pläne unterrichtet, hätte ich Sie bereits vorher die Wünsche Ihres Vaters wissen lassen. Sie sind mir natürlich nicht bekannt, doch ich bin davon überzeugt, dass die Botschaft Ihres Vaters Sie trösten wird.
M. Barkley.
Shirley legte den Brief des Rechtsanwalts beiseite und griff nach dem bei ihm hinterlegten Bericht ihres Vaters. Sie starrte den Umschlag an, wendete ihn, und ihre Augen verschleierten sich, als sie die vertraute kühne Handschrift sah. Sie brach das Siegel auf.
Meine einzige Shirley,
wenn du diese Zeilen liest, werden deine Mutter und ich nicht mehr bei dir sein, und ich hoffe, dass du nicht allzu sehr trauerst, denn unsere Liebe für dich ist aufrichtig und stark wie das Leben.
Du bist jetzt, da ich diese Zeilen aufsetze, zehn Jahre alt und bereits das genaue Abbild deiner Mutter, so dass mich heute schon der Gedanke an all die jungen Burschen bekümmert, die ich eines Tages von dir abwehren muss.
Ich habe dich heute Morgen beobachtet, als du still im Garten saßt, ein ungewöhnlicher Anblick. Denn im Allgemeinen flitzt du mit atemberaubender Geschwindigkeit auf Rollschuhen über die Bürgersteige oder schlitterst die Treppengeländer hinunter, ohne dich um Hautabschürfungen zu kümmern. Du benutztest meinen Skizzenblock und einen Bleistift und zeichnetest mit besessener Hingabe die blühenden Azaleen.
In dem Augenblick erkannte ich mit Stolz und Verzweiflung, dass du erwachsen wirst und nicht immer mein kleines Mädchen bleiben würdest, das sicher in der Obhut seiner Eltern aufgehoben ist. Mir wurde klar, dass ich dir über Ereignisse berichten muss, mit denen du dich später vielleicht einmal auseinander zu setzen hast.
Ich werde dem alten Barkley Anweisung erteilen, diesen Brief so lange aufzubewahren, bis deine Großmutter oder ein anderes Mitglied deiner mütterlichen Familie mit dir in Verbindung tritt. Geschieht dies nicht, ist es auch nicht notwendig, das Geheimnis zu offenbaren, das Deine Mutter und ich seit über einem Jahrzehnt hüten.
Damals malte ich in den Straßen von Paris, gefangen von der herrlichen Frühlingssonne. Ich war von dieser Stadt bezaubert, und ich brauchte keine andere Geliebte als meine Kunst. Ich war sehr jung und, um aufrichtig zu sein, ziemlich überspannt. Ich begegnete einem Mann namens Jacques le Goff, den mein ungezügeltes Talent beeindruckte. So jedenfalls drückte er es aus. Er beauftragte mich, ein Porträt seiner Verlobten zu malen, das er ihr zur Hochzeit schenken wollte. Er veranlasste, dass ich in die Bretagne fuhr und auf Schloss Kergallen wohnte. Mein Leben begann in dem Augenblick, als ich die riesige Eingangshalle betrat und zum ersten Mal deine Mutter sah.
Ich liebte sie vom ersten Augenblick an, einen sanften Engel mit Haaren wie aus Sonnenstrahlen, doch ich ließ mir nichts
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