Das Schmetterlingsmädchen - Roman
»Ja. Ich werde die Zeit nutzen, um die Stadt zu erkunden.«
The New York Home for Friendless Girls
355 W. Fünfzehnte Straße
New York, New York
Mrs. Alan Carlisle
194 North St. Francis Street
Wichita, Kansas
23. November 1908
Liebe Mrs. Carlisle!
Danke für Ihre großzügige Spende, die wir letzte Woche erhalten haben. Sosehr wir uns darüber freuen und sosehr wir auf Wohltätigkeit angewiesen sind, um die Mädchen in unserer Obhut zu kleiden, ernähren und auszubilden, können wir auf Ihr drittes Ansuchen ebenso wie auf jede zukünftige Anfrage nach Informationen über Ihre leiblichen Eltern leider nicht eingehen. Wir freuen uns, dass Sie verheiratet und selbst Mutter von zwei Söhnen sind und dass es Ihnen gut genug geht, dass Sie uns auf diese Weise helfen können. Bitte bedenken Sie, dass Ihnen all das möglich war, weil Sie Gelegenheit hatten, ein neues Leben fern der Großstadt zu beginnen und eine belastete Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es ist unsere Gepflogenheit, die Privatsphäre der leiblichen Eltern, die nicht genannt werden wollen, zu respektieren, und wir sind überzeugt, dass es für unsere ehemaligen Zöglinge besser ist, sich auf ihr gegenwärtiges Leben, nicht auf ihre problematische Herkunft zu konzentrieren.
Ich habe gelesen, was Sie über Ihre Sehnsucht und Verwirrung geschrieben haben, und möchte Sie wissen lassen, dass ich Sie in meine Gebete einschließe.
Gott segne Sie.
Schwester Eugenia Malley
8
Cora schlenderte allein den Broadway hinauf, dankbar für den ständigen Schatten der Gebäude, die sie vor der Vormittagssonne abschirmten. Als sie die Imbissbude erreichte, war das Lokal überfüllt. Auf ihrem Weg zur Theke wedelte sie Zigarren- und Zigarettenrauch weg. Der junge Mann mit Fliege, der mit Louise geflirtet hatte, stand immer noch hinter dem Tresen. Er lächelte und zeigte mit dem Kopf auf zwei Barhocker.
»Da sind Sie ja wieder.« Er räumte schmutzige Teller ab und sah sich um. »Wo ist denn Ihre Kä-ä-än-sas-Freundin?«
Cora schob sich auf einen der Hocker. »Sie hat Unterricht. Einen Eistee, bitte.«
Der junge Mann nickte. Obwohl er sichtlich enttäuscht war, stellte er einen elektrischen Ventilator so um, dass er in ihre Richtung blies. Sie beobachtete ihn, als er einem anderen Gast Kaffee einschenkte. Jedenfalls war er nicht so verrückt, sich einzubilden, dass er eine Chance bei Louise haben könnte. Er war ein gut aussehender Junge, ein bisschen älter als Howard und Earle, mit sonnengebleichtem braunem Haar und grünen Augen, für die das Durchschnittsmädchen wahrscheinlich schwärmen würde. Louise schien ihn kaum zur Kenntnis genommen zu haben.
»Was für Unterricht?« Er stellte ihr ein Glas und eine Schale Zucker hin.
»Tanz.« Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Mehr würde er von ihr nicht erfahren.
»Hab mir schon gedacht, dass sie Tänzerin oder so etwas sein könnte.« Er schenkte den Tee ein, ohne aufzublicken. »Sie sieht aus, als ob sie beim Film wäre. Ich habe nur gefragt, weil ich dachte, sie besucht vielleicht einen Sommerkurs, und ich überlegt habe, wo. Ich gehe auf die Columbia. Ich arbeite hier bloß im Sommer, um die Studiengebühren bezahlen zu können.« Jetzt sah er auf. »Könnten Sie das ihr gegenüber vielleicht erwähnen?« Er lächelte und wackelte mit den Augenbrauen. »Dafür bekommen Sie den Eistee gratis.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, schrillte eine Glocke, und er musste sich umdrehen, um einen Teller mit Pfannkuchen aus der kleinen Durchreiche zur Küche zu holen. Armer Kerl, dachte Cora. Total verknallt. Aber er hatte nichts, womit er punkten könnte. Auf Louise würde sein zukünftiger Universitätsabschluss kaum Eindruck machen. Sie könnte diesen Collegestudenten heiraten, von allen beneidet werden und doch irgendwann wie ihre Mutter enden.
Als er zurückkam, um ihr nachzuschenken, beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Übrigens, ich heiße Floyd. Floyd Smithers. Sind Sie beide Schwestern oder so?«
Sie verdrehte die Augen. Er versuchte es mit einer neuen Taktik, indem er der Aufpasserin schmeichelte. Sie holte das Stück Papier mit der Adresse aus ihrer Tasche. »Für den Tee bezahle ich«, sagte sie beiläufig, »aber ich hoffe, Sie können mir sagen, wie ich zu dieser Adresse komme.«
Er warf einen Blick auf den Zettel. »Am besten mit der U-Bahn.« Er nahm den Bleistift, der hinter seinem Ohr steckte, und zeichnete ihr wieder eine Skizze auf eine Serviette, diesmal in größerem
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