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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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unbeobachtet glaubte, versuchte es mit einer vereinfachten Version, indem sie mit geradem Rücken regungslos auf ihrem Stuhl saß und leicht den Kopf hin- und herbewegte.
    »Hallo?«
    Sie blickte auf. Ruth St. Denis kam mit ihren nackten Füßen lautlos auf sie zu.
    »Oh, hallo!« Cora, die sich tölpelhaft und unbeholfen vorkam, stand auf. Selbst in Schuhen war sie nicht größer als St. Denis, aber sie war auf jeden Fall breiter. Schwerfälliger. Ihre Hand wanderte zu ihrem Haar. »Ich hoffe, es macht nichts, dass ich geblieben bin. Ich gehöre zu Louise Brooks. Ich bin ihre Anstandsdame.«
    »Ah ja. Aus Kansas.« St. Denis wirkte belustigt. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Ich habe schon gehört, dass Louise in Begleitung kommen würde. Eine gute Idee von ihrer Mutter, fand ich.«
    »Oh. Sie kennen Myra?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Auf dieser Tournee war ich nicht dabei. Aber Ted hat sowohl Louise als auch ihre Mutter kennengelernt, als sie hinter die Bühne kamen … nach dem Auftritt in …« Sie schloss die Augen und tippte an ihren Turban.
    »Wichita«, sagte Cora.
    »Wichita.« Sie lächelte. »Die beiden haben ziemlich Eindruck auf ihn gemacht.« Sie warf Cora einen vielsagenden Blick zu. »Sie wirkt arrogant. Ist sie es?«
    Cora sah zu Louise, die mit verschränkten Armen die Lehrerin beobachtete. Cora war sich nicht sicher, was sie auf St. Denis’ Frage antworten sollte. Die ehrliche Antwort wäre natürlich ein Ja gewesen, aber seltsamerweise regte sich in ihr plötzlich so etwas wie ein Beschützerinstinkt für das Mädchen. »Nun ja«, sagte sie zurückhaltend, »sie hat ihre guten Eigenschaften.«
    »Hm.« St. Denis lächelte und zog ihre schmalen Augenbrauen hoch. »Die hat fast jeder.«
    Die Lehrerin hatte jedem Schüler ein quadratisches Stück Stoff aus durchsichtigem orangefarbenem Material gegeben. Sie ließ ihr Quadrat über ihrem Kopf flattern und wirbeln, und die Tänzer machten es ihr nach.
    »Aber sie ist begabt, oder?« Cora beobachtete Louise. »Ich verstehe nichts von Tanz. Aber ich habe zugeschaut, und sie scheint Talent zu haben.«
    St. Denis nickte. »Sieht so aus. Für eine Anfängerin.« Sie lächelte Cora an. »Aber das hatten wir nicht anders vermutet.« Sie sah wieder zu Louise. »Ted hat mir erzählt, wie die Mutter hinter der Bühne war. Diesen Typ kennen wir. Zeigen Sie mir eine Mutter mit gescheiterten Ambitionen, und ich zeige Ihnen eine Tochter, die für den Erfolg geboren ist.«
    Cora beobachtete Louise, die sich mit gestreckten Armen langsam im Kreis drehte. Ihr Gesicht, das vor Schweiß glänzte, war dem Deckenlicht zugewandt. Möglich, dass St. Denis recht hatte, dass Louise, so schön und talentiert sie auch war, nur dem Einsatz ihrer Mutter zu verdanken hatte, dass sie hier war. Sicher, zum Teil waren Anmut und Begabung ihr alleiniger Verdienst. Aber was wäre ohne Myra aus ihr geworden? Wenn Louise in einen Zug gesetzt worden wäre, der sie in ein anderes Leben gebracht hätte, ohne die Mutter zu kennen, der sie so sehr ähnelte – wäre es ihr dann besser ergangen? Schlechter? Was wäre an ihr anders gewesen?
    »Drehung! Noch einmal. Noch einmal!«, rief die Lehrerin den Tänzern zu.
    St. Denis berührte Cora leicht am Arm. »Es war nett, Sie kennenzulernen. Ach ja, und Sie können natürlich gern beim Unterricht zuschauen, aber er dauert jeden Tag fünf Stunden. Sie können Louise mit gutem Gewissen hierlassen. Wir passen gut auf unsere Schüler auf.« Sie lächelte. »Sogar in der Pause.«
    Cora zweifelte nicht daran, dass auch nach St. Denis’ Abreise nach Los Angeles ihre Ansprüche Gesetz bleiben würden. Sie war eindeutig der Gebieter – oder zumindest einer von zwei Gebietern, die über diese kleine Welt herrschten. Hier konnte sie Louise unbesorgt lassen. Die Nachmittage gehörten ihr!
    »Sie sollten sich die Stadt ansehen.« St. Denis hob den Blick zur Decke, als würde sich ganz New York City in der Kirche über ihnen zeigen. »Waren Sie schon einmal hier?«
    Cora schüttelte den Kopf. Wieder die vertraute Lüge. Die Lehrerin stand in der Mitte der Tänzer und hielt ihr orangefarbenes Tuch über dem Kopf. Mit einer eleganten Drehung schlang sie es wie einen Schal um ihre Schultern und senkte das Gesicht.
    Cora musste den Blick abwenden. Sie hatte einen weiten Weg hinter sich, und jetzt war sie angekommen. Die Adresse steckte in ihrer Handtasche.
    Sie dankte St. Denis für ihren Vorschlag und stimmte zu:

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