Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Akzent oder seltsame Betonung. »Wenn wir einander erst besser kennen, macht ihr das wahrscheinlich wirklich.«
Die Studenten lachten, aber einige von ihnen, einschließlich Louise, wirkten ziemlich überwältigt. Ted Shawn war über eins achtzig und sehr muskulös und hatte einen breiten Oberkörper. Sein Haar war dünn und am Ansatz etwas schütter, aber er sah jünger aus als seine Frau. Etwas an seiner Art erinnerte Cora an Alan. Er lächelte Ruth an, als sie weitersprach.
»Leider«, sagte sie, »kann ich nicht in New York bleiben und eure tänzerische Entwicklung verfolgen. Wie ihr wahrscheinlich wisst, haben wir ein Studio in Los Angeles, und zumindest einen Teil des Sommers muss ich dort verbringen. Aber ich werde euch von Zeit zu Zeit sehen, und ich wollte euch heute kennenlernen und vielleicht ein wenig Anleitung und Inspiration geben.«
Während sie sprach, starrte sie auf einen Punkt an der Wand, direkt über Coras Kopf, und ihre Augen verengten sich, als würde sie dort irgendetwas sehen – aber als Cora sich umdrehte und hinschaute, sah sie nur die nackte weiße Wand. St. Denis teilte den Schülern mit, dass jeder von ihnen von diesem Moment an das Tanzensemble Denishawn repräsentierte und sie von ihnen erwarte, dass sie sich auch auf dem Hin- und Rückweg zur Schule entsprechend benähmen. Andere Menschen, die an modernem Tanz interessiert seien, hätten unglücklicherweise Kunst mit zügellosem Betragen in Verbindung gebracht, zumindest in den Augen der Öffentlichkeit, doch sie und ihr Mann beabsichtigten, diese Fehlinterpretation zu korrigieren. Junge Frauen, die bei Denishawn Unterricht nähmen, trügen in der Öffentlichkeit Hüte, Strümpfe und Handschuhe. Sie rollten nicht ihre Strümpfe nach unten. Männliche Schüler trügen in der Öffentlichkeit Hüte. Rauchen oder Trinken sei weder Schülern noch Schülerinnen gestattet, nicht in der Schule und auch nicht anderswo.
»Tanz ist eine spirituelle Erfahrung«, sagte sie mit hoch erhobenem Kopf und ließ ihren Blick über die Gesichter der Schüler wandern. »Tanz duldet keine Unmoral oder Haltlosigkeit.«
Erst jetzt wirkte Louise alles andere als begeistert. Cora, die ihr Gesicht im Spiegel sehen konnte, bemerkte, dass sie geringschätzig den Mund verzog und als Einzige nicht aufblickte. Falls St. Denis diese stumme Auflehnung registrierte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie teilte der Klasse mit, dass sie in einer Revolution des amerikanischen Tanzes an vorderster Front stünden. Sie sei nicht daran interessiert, dass sie Schritte einstudierten oder sinnlose Athletik und Gelenkigkeit zur Schau stellten. Schon gar nicht sei sie an Radschlagen und hohen Sprüngen interessiert. Technisches Können, sagte sie, sei nur ein Werkzeug, das dem Körper erlaube, sein angeborenes Verständnis für den Rhythmus des Universums zu entdecken, und Menschen aller Rassen zu ermöglichen, Gott, Buddha und Allah und sämtliche anderen Formen von Göttlichkeit zu erfassen. Tanz sei ein visualisierter Ausdruck von Göttlichkeit, eine Möglichkeit für den Tanzenden, zu begreifen, dass er nicht in seinem Körper, sondern sein Körper in ihm war.
Cora hatte keine Ahnung, was sie meinte. Aber alle anderen schienen die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen, deshalb verhielt sich Cora ganz still. Sie hatte Zeit der Unschuld mitgebracht, schlug es aber nicht auf. Sie wollte sich nicht selbst in eine peinliche Lage bringen, indem sie den Eindruck erweckte, als sei sie ein Kunstbanause. Und sie wollte wirklich hören, was diese Frau zu sagen hatte, auch wenn sie es nicht begriff.
»Ich möchte, dass ihr lernt, die Musik zu fühlen.« St. Denis legte ihre Handflächen aneinander. »Nicht, im Kopf alberne Zahlen mitzuzählen. Gewisse Komponisten machen es leichter, dieses Gefühl zu entwickeln. Wer von euch ist mit der Musik von Debussy vertraut?«
Niemand sagte etwas oder rührte sich. St. Denis lächelte die Schüler freundlich an und wollte gerade etwas sagen, als Louise den Arm hob.
»Ich. Natürlich. Meine Mutter spielt ständig seine Stücke.«
Einige Schüler drehten sich um, um zu sehen, wer sich gemeldet hatte. Einige tauschten Blicke aus.
Nachdem St. Denis und Shawn zur Seite getreten waren, setzte die rothaarige Lehrerin den Unterricht fort, indem sie die Schüler aufforderte, im Stehen den Kopf von einer Seite zur anderen zu rollen und dabei die Schultern völlig still zu halten. Sie nannte diese Übung die Kobra. Cora, die sich in ihrer Ecke
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