Das Schmetterlingsmädchen - Roman
befreundet«, wiederholte sie.
»Ach ja?« Louise musterte sie kühl. Bis auf das Klappern des Geschirrs und das Läuten der Küchenglocke war es still. »Was hatte Effie Vincent noch zu sagen?«
»Nichts. Nur dass du gern zur Sonntagsschule gegangen bist. Das ist kein bösartiger Klatsch, Louise. Es ist nett gemeint, wenn jemand so etwas über dich sagt. Ich verstehe nicht, worüber du dich so aufregst.«
Cora hätte am liebsten sanft den Arm des Mädchens berührt, um ihr zu zeigen, dass sie es nicht böse meinte. Aber irgendetwas hielt sie davon ab. War Louise einfach nur melodramatisch? War das die berüchtigte Launenhaftigkeit pubertierender Mädchen? Ihre Jungs waren nie so gewesen, hatten sich nie Kränkungen eingebildet, die nicht vorhanden waren. Earle konnte distanziert und still werden, wenn er niedergeschlagen war, aber keiner ihrer Söhne war je wegen einer ausgesprochen unschuldigen Bemerkung in Wut geraten oder hatte sie einem Kreuzverhör unterzogen.
Louise schob ihren Teller weg. »Ich rege mich nicht auf.« Sie blickte auf und schenkte Cora ein gönnerhaftes Lächeln, genau wie das, mit dem sie auf dem Bahnsteig in Wichita ihren Vater bedacht hatte. »Ich staune nur, wie ihr feinen Damen es schafft, so gut über alles und jeden im Bilde zu sein. Wirklich allerhand, was ihr so wisst.«
Die Music Hall auf der Dreiundsechzigsten Straße lag nicht nur außerhalb des Theaterbezirkes, sie hatte nichts von der üppigen Pracht des New Amsterdam. Tatsächlich war es einfach ein alter Vortragssaal mit einem hineingequetschten Orchestergraben und Sitzen mit zerschlissener Polsterung. Cora und Louise waren unter den Ersten, die eintrafen, und im Theater war es noch still genug, dass man links vom Zuschauerraum ein hartnäckiges Telefonklingeln hören konnte, pausenlos und ohne dass jemand abhob. Aber Louise hatte geschworen, dass Shuffle Along einer der größten Erfolge des Jahres war und dass in der Kritik, die sie gelesen hatte, stand, es gäbe weder derben Humor noch unfeine Sprache. Tatsächlich begannen sich die Reihen mit achtbar wirkenden Leuten zu füllen, und Cora entspannte sich und nahm ihr Buch aus der Tasche. Eine Möglichkeit für eine Unterhaltung war nicht gegeben. Louise, die links von ihr saß, hatte in dem Moment, als sie Platz nahmen, ihren Schopenhauer hervorgeholt.
Sie waren immer noch beide in ihre Bücher vertieft, als jemand Cora auf die Schulter tippte. Sie blickte auf und sah einen hochgewachsenen Farbigen in Anzug mit Weste vor sich.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er.
Hinter ihm stand eine Frau, ebenfalls eine Farbige, in einem Organdykleid und mit Perlen um den Hals.
Cora starrte die beiden unsicher an. Sie wollte keinen Ärger haben.
»Cora.« Louise lachte und stupste sie an. Sie stand bereits. »Sie wollen zu ihren Plätzen.«
Coras Blick wanderte über die Sitzreihen. Erst jetzt stellte sie fest, dass mindestens vier Farbige im Parkett saßen, noch näher an der Bühne als sie selbst.
»Oh! Ja, natürlich«, sagte sie und stand rasch auf. Ihr Sitz klappte hinter ihr hoch. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich und betrachtete verstohlen das Paar, während sie sich zurücklehnte, um ihnen Platz zu machen. Nachdem sie vorbeigegangen waren, setzte sie sich langsam wieder hin und sah sich um. Sie war nicht sicher, was los war, ob es sich um eine Art Protest oder Störaktion handelte. Vor einigen Jahren hatte in Wichita eine Gruppe farbiger Männer versucht, im Parkett eines Theaters Plätze zu belegen, aber sie waren noch vor Beginn der Aufführung verhaftet worden.
Aber hier wirkte niemand beunruhigt, weder Schwarze noch Weiße.
Sie studierte das Programm. Die Zeichnung auf der Titelseite wirkte harmlos, nur die Beine von ein paar Männern und Frauen, die nebeneinanderstanden, waren zu sehen. Die Oberkörper wurden vom Titel verdeckt. Sie schlug das Programmheft auf und überflog die Besetzungsliste, die Titel der einzelnen Nummern. Syncopating Sunflower. Happy Honeysuckle. Jazz Jasmine.
Sie schluckte und berührte Louise am Arm.
»Louise«, wisperte sie. »Was für eine Show ist das?«
Louise blickte auf. Ihr Gesichtsausdruck war gleichgültig und verärgert zugleich, als wüsste sie nicht, was Cora wollte, als wäre alles ganz normal, was Cora rasend machte, denn natürlich war es ganz und gar nicht normal, wenn Farbige im Parkettbereich eines Theaters Platz nahmen, nicht einmal für New York. Im New Amsterdam hatten die Farbigen oben auf dem Balkon oder
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