Das Schmetterlingsmädchen - Roman
geschrieben. Vielleicht lebt sie immer noch unter der Adresse.« Jetzt kam es ihr unsensibel vor, über ihr eigenes Glück zu sprechen. Aber er sah sie so eindringlich an. Sehr eindringlich.
»Haben Sie je von der Florence Night Mission gehört?«
Er schüttelte den Kopf.
»In der Bleecker Street?«
»Die ist im Village. Nicht weit entfernt.«
»In den Unterlagen steht, dass ich von dort gekommen bin. Vielleicht gehe ich hin, einfach, um es mir anzuschauen.« Nicht vielleicht, sondern ganz sicher, dachte Cora. Gleich morgen, wenn sie Louise zum Unterricht gebracht hatte.
»Ja, sicher. Wo Sie den weiten Weg von Kansas gekommen sind.«
Cora lächelte. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Ihr Blick ruhte auf seinen Händen. Sie könnten etwas Creme vertragen, dachte sie. Die Kuppen seiner Daumen waren rau und rissig.
»Ich finde es falsch von den Schwestern, Ihnen keinen Einblick in die Akten zu erlauben«, sagte er. »Deshalb habe ich Sie reingelassen. Aber Sie sollten wissen, dass die Nonnen nicht einfach gemein oder verrückt sind. Sie haben ihre Gründe.« Er breitete seine Hände aus. »Passen Sie auf sich auf. Das will ich damit sagen.«
Sie nickte und sah ihn verstohlen an. Es war angenehm, Gegenstand einer gewissen Fürsorge zu sein. Sie war in den letzten Tagen ein bisschen niedergeschlagen gewesen, vielleicht weil sie die meiste Zeit mit Louise verbrachte. Und sie hatte erwartet, dass die Leute in New York unfreundlich und abweisend waren. Aber schon hatte sie einen Freund gefunden. Ein deutscher Hausmeister und Exgefangener, den sie vielleicht nie wiedersehen würde, aber trotzdem ein Freund.
»Danke«, sagte sie ehrlich. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.«
Er nickte und ließ seinen Blick über ihr Gesicht wandern, auf eine Art, an die sie sich noch lange erinnern würde.
»War mir ein Vergnügen.«
Sie stand rasch auf und sagte, dass sie sich beeilen und die U-Bahn nehmen müsste; ihr junger Schützling würde bald aus der Klasse kommen. Sie musste sich wirklich beeilen. Als sie den Drugstore verließ, ging sie schnell und mit gesenktem Kopf, weil sie Angst hatte, sie könnte erröten. Aber die Frau hinter dem Ladentisch rief ihr nur zu, sie solle unbedingt wiederkommen, und winkte ihr mit ihrer weinbefleckten Hand nach.
13
»Ich hasse Filme.« Louise saß unter dem Bild mit der Siamkatze und fächelte sich mit einem Teil der Zeitung Luft zu. »Ehrlich. Ist mir egal, was im Kino läuft. Ich gehe hundertprozentig nicht hin.«
Cora, die das Programm studierte, blickte gereizt auf. Die feuchte Hitze schon so früh am Morgen machte sie nicht geduldiger. »Wie kannst du Filme hassen, Louise? Du liebst das Theater. Bei den Filmen muss man die Texte lesen, aber das ist der einzige Unterschied.«
»Pure Blasphemie.« Louise, die sich immer noch Luft zufächelte, schloss die Augen. »Sagen Sie so etwas bitte nie wieder in meiner Gegenwart.«
Cora runzelte die Stirn. Nach nur einer Woche Sprechunterricht bei Floyd Smithers, erkauft mit einem Milkshake pro Tag, hatte sich Louises Aussprache deutlich verändert, und zwar fast unmerklich – es hörte sich tatsächlich nicht so an, als wollte sie einen britischen Akzent nachahmen. Aber sie klang auch nicht mehr wie sie selbst oder wie irgendjemand sonst daheim in Wichita. Ihre Vokale waren abgerundeter, ihre Konsonanten akzentuierter. Innerhalb weniger Tage hatte sie ihr Ziel erreicht: Sie sprach akzentfrei.
»Es ist ganz und gar nicht dasselbe«, fuhr sie fort, schlug die Augen auf und bedachte Cora mit einem nachsichtigen Blick. »Filme werden für die breite Masse produziert und verpackt und kalt serviert. Wichita sieht, was Los Angeles sieht, und Manhattan sieht, was Toledo sieht. Es ist alles dasselbe, weil es tot ist.« Sie legte die Zeitung weg und ließ eine Hand über den Tisch flattern. »Theater ist wie Tanz. Beides ist lebendig und vergänglich. Es gibt nur diesen einen Abend für Tänzer und Publikum, an dem alle dieselbe Luft atmen.« Sie seufzte, als wäre ihr klar, dass es ein sinnloses Unterfangen war, Cora diese Dinge zu erklären. »Außerdem«, sagte sie, »können Sie alle Filme, die Sie interessieren, auch in Wichita anschauen, aber an den Broadway kommen Sie nicht mehr, wenn Sie erst einmal wieder daheim sind.«
Cora fiel schon seit geraumer Zeit auf, dass Louise stets »wenn Sie wieder in Wichita sind« sagte, nie »wenn wir wieder in Wichita sind«. Sie vermutete, dass Louise nicht nur auf ein dauerhaftes
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