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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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sagen sollte. »Waren Sie … waren Sie auch krank?«
    »Ich war nicht bei ihr.« Er rieb sich die blonden Bartstoppeln auf seinem Kinn. »Während des Krieges und auch noch eine Weile danach war ich weg. Unten in Georgia. Fort Oglethorpe. Ich war interniert.«
    »Interniert?« Sie runzelte die Stirn. »Im Gefängnis, meinen Sie?«
    »Tja, es war dasselbe wie ein Gefängnis. Nur dass man vor einer Haftstrafe eine Gerichtsverhandlung bekommt.«
    Sie rückte ein kleines Stück von ihm ab. »Was haben Sie getan?«
    »Es ging darum, was ich nicht getan habe.« Er ließ sie nicht aus den Augen. »Ich bin nicht vor einem wütenden Mob in die Knie gegangen. Ich wollte nicht die Flagge küssen, nicht für sie. Deshalb war ich ein Spion. Sie hatten an die viertausend von uns Spionen da unten. Nur dass wir erst wussten, dass wir Spione waren, als man es uns sagte.«
    Sie schwieg. Vielleicht log er. Vielleicht war er wirklich ein Spion gewesen. Oder er hatte heimlich Geld nach Deutschland geschickt, wie sie es von anderen Immigranten gehört hatte. Vielleicht hatte er es verdient, nach Georgia geschickt zu werden. Aber vielleicht auch nicht. In Wichita war zu Kriegsbeginn ein Ausländer, der auf der Douglas Avenue Popcorn verkaufte, beinahe von einer rasenden Menschenmenge getötet worden. Alan, der zufällig die Straße herunterkam, sagte, es wäre der schrecklichste Moment seines Lebens gewesen, mit anzusehen, wie all diese Menschen den Mann anschrien, der sie auf Knien anflehte und zu erklären versuchte, dass er seine Kriegsanleihe verlegt hatte und die Flagge nicht an seinem Stand aufgehängt hatte, weil sie zerrissen war und er noch keine Zeit gehabt hatte, sie zu flicken. Schließlich kam die Polizei und brachte den Mann in Sicherheit. Später erfuhren sie und Alan, dass der Mann nicht einmal Deutscher, sondern ein polnischer Jude war.
    »Ihre Frau starb, als Sie da unten waren?«
    »Ja. Und ich wusste es nicht einmal. Man gab uns nur manchmal unsere Post. Ich habe den Brief nicht bekommen.« Er zuckte die Achseln. »Ich hätte gar nichts machen können. Das ganze Gelände war mit Stacheldraht eingezäunt.« Er zeigte auf die niedrige Decke und zog mit seinem Finger einen Halbkreis. »Es gab Wachtürme mit Männern mit Maschinengewehren. Als man mich rausließ, bin ich hierher zurückgekommen, und erst dann erfuhr ich, dass Andrea gestorben war. Die Nachbarn erzählten mir, dass eine Wohltätigkeitsorganisation das Baby mitgenommen hatte. Ich brauchte drei Monate, um sie hier aufzuspüren.« Er hob die Flasche und stellte sie wieder hin. »Aber ich konnte sie damals nicht aus dem Heim nehmen. Mein Lokal war weg. Ich hatte kein Geld. Ich konnte nicht arbeiten und mich gleichzeitig um sie kümmern. Ich sagte den Schwestern, dass ich gut darin bin, Sachen zu reparieren und in Ordnung zu halten, und sie waren so barmherzig, mich einzustellen. Auf diese Weise kann ich sie wenigstens jeden Tag sehen. Und ich weiß, dass sie gut aufgehoben ist.« Er rieb sich das Kinn. »Sie ist fast sechs.«
    Cora senkte den Blick. »Sie müssen sehr wütend sein«, sagte sie leise. »Weil Sie weggebracht worden sind.«
    Er seufzte und blies seine Backen auf. »Nein. Wie Sie selbst gesagt haben, kann ich froh sein, dass ich am Leben bin. Ich könnte verrückt werden, wenn ich daran denke, was passiert wäre, wenn man mich nicht nach Georgia geschickt hätte.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht war es Glück. Die Grippe war auch in Oglethorpe. Jeden Abend wurden Tote rausgebracht. Aber ich glaube, in Queens war es schlimmer, in unserer Straße, in unserem Wohnhaus. Wenn ich nicht interniert gewesen wäre, wäre ich bei meiner Frau gewesen, aber vielleicht wäre ich auch krank geworden und gestorben. Und was wäre dann aus unserer Tochter geworden? Sie wäre eine Vollwaise gewesen, keine Halbwaise.« Er sah Cora an. »Vielleicht wäre sie inzwischen schon mit dem Zug weggeschickt worden.«
    Cora schwieg. Es war kaum zu glauben, dass die Züge immer noch fuhren, dass andere Kinder immer noch, vielleicht genau in diesem Augenblick, gen Westen fuhren, ihrem Glück oder Unglück entgegen. »Das stimmt«, sagte sie schließlich. »Man kann nicht wissen, wie es hätte kommen können.«
    »Darüber sollten Sie vielleicht einmal nachdenken.« Der Tisch knarrte, als er sich auf seine Ellbogen stemmte. »Und was machen Sie jetzt? Werden Sie dieser Frau schreiben, die Ihre Mutter kannte?«
    »Ja«, sagte Cora. »Sie hat von Haverhill, Massachusetts,

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