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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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umklammerte er ihre Schultern, und gemeinsam richteten sie sich auf, ihr Gesicht in sein verschlammtes Hemd gedrückt.
    «Ruhig. Ganz ruhig. Greif ins Halfter.»
    Mabel versuchte, mit einer Hand das Pferd ruhig zu halten, das ständig den Kopf wegriss. Jack ließ sich gegen die Flanke des Pferdes fallen.
    «Jack, das schaffst du nicht. Wie willst du auf ihn draufkommen?»
    «Ich muss.» Er griff in die Mähne und zog sich unter Schmerzenslauten hoch, bis er quer über den Pferderücken zu liegen kam.
    «Brrrr!» Mabel hatte Mühe, das Tier zu halten. Jack schob vorsichtig ein Bein hinüber und hing schließlich rittlings auf dem blanken Rücken, das Gesicht an den Pferdenacken gepresst, dessen Fell steif war von getrocknetem Schweiß. Jeder Atemzug gurgelte in seiner Brust.
    «Herrgott», flüsterte er. «Herrgott noch mal.»
    «Jack? Soll ich jetzt losgehen?»
    «Langsam. Ganz langsam.»
    Der Heimweg war lang und schwer zu erkennen. In dem trüben Licht konnte Mabel weder Entfernungen noch Höhen einschätzen. In der einen Hand trug sie das Gewehr, mit der anderen führte sie das Pferd. Jedes Mal, wenn das Tier stolperte, schrie Jack auf. Hätte Mabel doch nur ein Seil oder einen Führstrick gehabt. Mehrmals entriss ihr das Pferd den Backenriemen, und sie hatte Angst, es könne Jack abwerfen und nach Hause galoppieren.
    «Schon in Ordnung, Mabel. Geh nur langsam.»
    Sie führte das Pferd bis zur Haustür und half Jack, vorsichtig zu Boden zu gleiten, bis er auf Händen und Knien kauerte.
    «Geh», sagte er. «Bring das Pferd in den Stall.»
    «Aber –»
    «Ich schaffe es schon hinein. Geh.»
    Als sie das Pferd fortführte, schaute sie sich noch einmal um. Auf allen vieren kroch Jack die Stufe hoch.

    Mit einem Mal wieder ruhig und gesammelt, wärmte Mabel Wasser an und half Jack aus den Kleidern. Vor dem Ofen breitete sie eine Wolldecke aus, auf der er liegen konnte, während sie seinen Körper und seine Haare von Blut und Schmutz befreite. Gelegentlich ächzte er vor Schmerz, besonders, als sie die Abschürfungen an seinen Schulterblättern abtupfte. Was sie jedoch stärker beunruhigte, war der schwarzviolette Fleck, der sich allmählich im Lendenbereich ausbreitete.
    «Ich sollte Hilfe holen.»
    Er schüttelte den Kopf. «Hilf mir nur ins Bett.»
    Die oberflächlichen Wunden ließ sie unbedeckt, in der Hoffnung, dass sie so schneller heilten. Sie zog ihm lediglich ein sauberes langärmeliges Unterhemd über. Halb nackt kroch Jack auf Händen und Knien in die Schlafkammer. Mabel half ihm ins Bett. Später brachte sie ihm einen Teller Brühe und versuchte, sie ihm löffelweise einzuflößen, doch er knirschte nur vor Pein mit den Zähnen.
    In dieser Nacht saß sie noch lange bei Kerzenlicht am Tisch, vor sich eine Tasse mit kalt gewordenem Tee. Gelegentlich knarzte das Bett, und Jack stöhnte. Seine Knochen hatten schon einiges mitgemacht – einmal hatte er sich auf dem elterlichen Hof die Hand zwischen Transportkisten eingeklemmt, ein anderes Mal war er unter ein Pferd geraten und hatte sich das Bein gebrochen. Doch in einem solchen Zustand wie jetzt hatte sie ihn noch nie erlebt. Morgen würden die Schmerzen noch schlimmer sein. Sie dachte an die unbestellten Felder und an das verzweifelte Tempo, in dem er oftmals zwölf Stunden am Stück gearbeitet hatte. Dennoch war er ohne Hoffnung geblieben, rechtzeitig fertig zu werden. Egal, wie schnell er wieder gesund würde – dies konnte ihnen das Genick brechen.

    In jener Nacht schlief Mabel so gut wie gar nicht. Ohne Unterlass kreisten ihre Gedanken um Pflanztage und Ertragsberechnungen, und am Ende stand sie jedes Mal vor denselben unbeantworteten Fragen. Gelegentlich nickte sie auf ihrem Stuhl ein, nur um wieder hochzuschrecken, wenn Jack leise aufschrie.
    Ihre Einschätzung war richtig gewesen – die Schmerzen nahmen über Nacht so zu, dass Jack am Morgen kaum noch sprechen konnte. Sie rollte ihn vorsichtig auf die Seite und schob sein Hemd hoch. Die Prellungen drückten auf den Knochen.
    «Meine Füße sind taub, Mabel.» Verzweiflung schwang in seinem Flüstern.
    Sie strich ihm über die Stirn und küsste ihn auf den Mund. In ihrer Stimme lag ruhige Zuversicht, obgleich sie diese nicht verspürte. «Ich bin gleich zurück.» Sie brachte ihm Wasser und weiches Brot und erklärte, sie müsse jetzt für ein Weilchen hinaus, um das Pferd zu füttern.
    Erst wenige Male in ihrem Leben hatte sie ein Pferd gesattelt, aber auf dem Pferderücken käme sie schneller

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