Das Schneemädchen (German Edition)
voran als mit dem Wagen. Auch wenn sie Jack nur ungern allein ließ, sah sie keine andere Wahl: Sie musste einen Arzt holen.
Einen ganzen Sommer lang hatte sie in der Stadt gewohnt, und doch konnte sie sich nicht erinnern, wo der Arzt zu finden war. Wahrscheinlich hatte er ein Zimmer in der Pension oder im Hotel. Nach dem ermüdenden zweistündigen Ritt stieg Mabel ab und führte das Pferd die unbefestigte Straße entlang bis zum Gemischtwarenladen. Über Joseph Palmer, den Besitzer, hatte Jack immer nur Gutes verlauten lassen. Sie hatte ihn als einen freundlichen, ruhigen Mann mit gestutztem weißem Bart in Erinnerung.
Als Mabel ihn nach einem Arzt fragte, geriet er sichtlich in Verlegenheit.
«Hier gibt es keinen. Der nächste wäre in Anchorage. Sie müssten mit dem Zug hinfahren.»
«Wie bitte?»
«Wir haben hier keinen Doktor, tut mir wirklich leid. Noch nie einen gehabt», wiederholte er voller Mitgefühl.
«Ist das Ihr Ernst? Keinen Arzt? Und so was schimpft sich eine Stadt?!»
Mabel atmete langsam ein, versuchte tief in ihrem Innern ein letztes Restchen Kraft zu finden. Mr. Palmer nickte, als sie ihm Jacks Verletzungen schilderte. Es sei nicht das erste Mal, dass sich hier jemand den Rücken verrenke, meinte er – ein Arzt könne da sowieso kaum etwas tun.
«Man muss einfach abwarten. Entweder es heilt, oder es heilt nicht.» Nur ungern schien er diese Wahrheit auszusprechen, ihm war offensichtlich klar, was davon abhing.
Abgesehen von Zugfahrkarten nach Anchorage konnte Mr. Palmer ihr nur eine braune Sirupflasche anbieten.
«Geben Sie ihm alle paar Stunden ein bisschen davon. Es lindert die Schmerzen und lässt ihn schlafen», sagte er. «Und haben Sie keine Angst, dass Sie ihm zu viel verabreichen könnten. Ich kenne Männer, die trinken es regelmäßig, und es scheint ihnen nicht sonderlich zu schaden.»
Mabel zahlte und dankte ihm. Als sie sich der Tür zuwandte, ergriff er noch einmal das Wort.
«Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich das jetzt sage – vielleicht sollten Sie ihm auch etwas Schnaps besorgen. Ted Swanson, hinter den Schienen unten am Fluss, der kann Ihnen da möglicherweise aushelfen. Es dürfte Jack guttun, wenn Sie hiervon ein wenig in Alkohol rühren. Normalerweise empfehle ich so etwas nicht, aber es klingt danach, als könnte er das brauchen.»
Laudanum und Schwarzgebrannter – das war alles, was dieser Ort für ihren verunglückten Mann bereithielt. Sie stieg aufs Pferd und galoppierte zum Gehöft zurück, viel zu wütend, um Angst zu verspüren.
Kapitel 23
Blau strahlte der Himmel, die klebrigen Pappelknospen begannen aufzuplatzen, und schlammige Äcker verwandelten sich in fetten, frischen Boden. Mabels Kummer hingegen schien abgenutzt und verstaubt und nur allzu vertraut. Etwas wie Hunger oder Durst saß ihr in der Kehle, und sie erwog kurz, selbst von Jacks Laudanum zu nehmen, unterließ es dann aber. Gegen das gleißende Sonnenlicht erschien das Häuschen kühl und dunkel. Sie machte kein Feuer, ließ jedoch unablässig Kerzen brennen. In dem Bett, in dem er nun allein lag, dämmerte Jack vor sich hin und rief sie nur, wenn die Wirkung des Schmerzmittels nachließ. Sie musste daran denken, was Esther einmal über die Elche gesagt hatte: dass sie nicht selten gerade dann, wenn das Frühjahr begann, vor Hunger starben. Den ganzen Winter hatten sie überstanden, nur um sich am Ende in den schweren, nassen Schnee fallen zu lassen und erschöpft aufzugeben.
Mabel war allein. Ihr starker, treusorgender und liebender Ehemann war völlig gebrochen, er schluchzte nachts und flehte sie an, ihn zu verlassen, nach Hause zurückzukehren und ein neues Leben ohne ihn zu beginnen. Das kleine Mädchen, das sie in ihr Herz geschlossen hatten, war verschwunden – noch ein Kind verloren. Aufrecht auf dem Stuhl sitzend, fiel sie zu den unmöglichsten Zeiten in kurzen, tiefen Schlaf und träumte von Schneepfützen und einem blutverschmierten, totgeborenen Kind. Das Märchen, von dem ihre Schwester geschrieben hatte, geisterte durch ihre Träume. «Merke ich, dass ihr mich gering schätzt, so schmelze ich dahin. In die Lüfte kehre ich zurück – ich, das kleine Mädchen aus Schnee.»
Wachte Mabel dann auf, konnte sie der Trauer aus ihren Träumen nicht einmal nachspüren. Zu viel war zu tun: das Pferd versorgen, Wasser heranschleppen, Jack auf den improvisierten Nachttopf helfen, Essen zubereiten, auch wenn sie als Einzige aß. Müdigkeit verzerrte jedes Zeitgefühl,
Weitere Kostenlose Bücher