Das schoenste Geschenk
ließ sich hier nieder, heiratete und hatte eine Tochter. Sie nannten sie Anne. Er und seine Frau kamen bei einem Unfall ums Leben, als die Tochter fünf Jahre alt war. Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie einer Mutter zumute ist, wenn sie jedes ihrer Kinder überlebt.«
Victor sagte nichts. Stumm beobachtete er, wie sie eine Weile gedankenverloren zu dem kleinen Kellerfenster hochschaute und dann erneut unruhig auf und ab lief. Ruhig erzählte sie weiter, und Victor hörte gebannt zu.
»Großmutter zog ihre Enkeltochter Anne auf. Sie liebte sie sehr. Meine Mutter war ein außergewöhnlich schönes Kind. Aber sie war immer unzufrieden. Was ich über sie weiß, habe ich zum größten Teil von den Leuten im Ort erfahren. Großmutter hat nur ein- oder zweimal über sie gesprochen. Anne hasste das einsame Leben hier draußen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden. Mit siebzehn wurde sie schwanger.«
Ihr Tonfall änderte sich. Ein klein wenig nur, aber Victor hörte die Veränderung deutlich heraus. Ihre Stimme klang plötzlich ausdruckslos und spröde. In diesem Ton hatte er sie noch nie sprechen hören.
»Entweder wusste sie es nicht, oder sie wollte nicht zugeben, wer der Vater des Kindes war. Kaum war ich auf der Welt, da verschwand sie und ließ mich bei Großmutter zurück. Von Zeit zu Zeit kam sie uns besuchen, blieb ein paar Tage und schwatzte Großmutter Geld ab. Wenn ich richtig informiert bin, war sie dreimal verheiratet. Ich habe sie in Pelzmänteln gesehen. Aber sie schienen sie nicht glücklich zu machen. Sie ist noch immer schön, selbstsüchtig und unzufrieden.« Sharon blieb stehen und schaute ihn mit ernstem Gesicht an.
»Meine Grußmutter hatte sich für die Liebe entschieden. Sie war glücklich. Von meiner Mutter habe ich nur eines gelernt: dass Besitz nicht glücklich macht. Je mehr Besitz einer anhäuft, desto weniger gibt er sich mit dem zufrieden, was er hat. Die Lebensart meiner Mutter brachte allen, die sie liebten, nur Kummer. Ich glaube nicht, dass ich die Voraussetzungen für solch ein Verhalten mitbringe.«
Als sie auf die Kellertreppe zuging, versperrte ihr Victor den Weg. Herausfordernd hob sie das Kinn, um zornig zu ihm aufzublicken. In ihren Augen glänzten Tränen.
»Du hättest mich zum Teufel schicken sollen«, sagte er ruhig.
Sharon schluckte. »Dann geh zum Teufel«, murmelte sie und wollte sich an ihm vorbeidrängen.
Victor fasste sie bei den Schultern und schaute ihr ins Gesicht. »Bist du jetzt böse, weil du mir etwas anvertraut hast, das mich gar nichts angeht?«, fragte er.
Sharon holte tief Luft. Fest blickte sie ihm in die Augen. »Ich bin böse, weil du ein Zyniker bist. Denn Zynismus habe ich noch nie verstanden.«
»Genauso wenig wie ich Idealismus verstehen kann.«
»Ich bin keine Idealistin«, gab sie zurück. »Ich rechne nur nicht so wie du ständig damit, dass irgendjemand darauf wartet, mich auszunutzen.« Auf einmal wurde sie ruhiger – und sehr traurig. »Ich glaube, was du dir durch dein ewiges Misstrauen antust, wiegt weitaus schwerer als das Risiko, das du eingehst, wenn du deinen Mitmenschen vertraust.«
»Und wenn dieses Vertrauen nun enttäuscht wird?«
»Dann überwindest du deine Enttäuschung und lebst dein Leben weiter. Du wirst nur dann zum Opfer, wenn du dich als solches betrachtest.«
Er zog die Brauen hoch. Betrachtete er sich als Opfer? Lag es an ihm, dass Amelia noch über den Tod hinaus sein Leben zerstörte? Wollte er tatsächlich den Rest seines Lebens immer nur Ausschau nach dem nächsten Vertrauensbruch halten?
Sharon fühlte, wie der Druck seiner Finger nachließ, sah den verwirrten Ausdruck in seinem Gesicht.
Behutsam berührte sie seine Schulter. »Bist du sehr verletzt worden?«, fragte sie.
Victor schaute sie an, als sei er aus einem Traum erwacht. Dann ließ er sie los. »Ich wurde bitter enttäuscht und all meiner Illusionen beraubt.«
»Das ist wahrscheinlich das Schlimmste, was einem zugefügt werden kann.« Mitfühlend legte sie die Hand auf seinen Arm. »Wenn ein geliebter Mensch sich als unehrlich erweist oder ein Ideal zerbricht, dann ist das nur schwer zu akzeptieren. Ich habe meine Ideale immer sehr hochgesteckt. Wenn sie mir genommen würden, wäre das für mich ein großer Schlag.« Lächelnd nahm sie seine Hand. »Lass uns ein bisschen spazieren fahren.«
Ihre Worte hatten ihn so nachdenklich gestimmt, dass er ihren Vorschlag im ersten Moment gar nicht verstand.
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