Das schoenste Geschenk
Er sah sie nicht eine Sekunde lang untätig herumsitzen.
Sharon verhielt sich ihm gegenüber offen und freundlich wie immer. Nicht mit einem einzigen Wort hatte sie je erwähnt, was zwischen ihnen vorgefallen war. Doch Victor musste all seine Willenskraft aufbieten, um sie nicht zu berühren. Sie lachte, brachte ihm Kaffee und lieferte ihm lustige Berichte über ihre Abenteuer auf den Auktionen. Und er begehrte sie mit jedem Tag mehr.
Ihre Anwesenheit machte ihn nervös. Vielleicht sollte ich eine Woche nach Washington fahren, dachte er, während er die Tapetenleisten des Sommerraums befestigte. Bis jetzt hatte er die Geschäfte seiner Firma telefonisch oder schriftlich erledigt, und es bestand eigentlich kein Grund, dort nach dem Rechten zu sehen. Aber er musste Abstand von Sharon gewinnen. Sie verfolgte, ja sie quälte ihn.
Der Gedanke an sie beunruhigte Victor dermaßen, dass er seine Werkzeuge zusammenpackte. Er konnte heute einfach nicht arbeiten.
Doch anstatt nach Hause zu gehen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, nahm Victor einen Umweg über den Keller. Er verfluchte sich zwar dabei, aber er stieg trotzdem die schmale Treppe hinunter.
In weiten Cordjeans und einem viel zu langen Pullover stand Sharon in ihrer Werkstatt und arbeitete gerade an einem Klapptisch. Victor hatte gesehen, wie der Tisch aussah, als sie ihn ins Haus geschleppt hatte. Die Tischplatte war zerkratzt und stumpf gewesen. Jetzt glänzte die Maserung des Mahagoniholzes durch die dünne Lackschicht, die Sharon aufgetragen hatte. Eifrig polierte sie die Tischplatte mit Wachs.
Victor wollte sich gerade umdrehen und wieder die Treppe hinaufsteigen, als Sharon den Kopf hob und ihn sah. »Hallo!«, sagte sie erfreut, lächelte ihn dabei freundlich an und bat ihn aufgeregt: »Schau dir mal den Tisch an. Du bist schließlich der Experte, wenn es um Holz geht.« Während er auf sie zuging, trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten.
»Es wird mir schwerfallen, mich von dem Stück zu trennen«, meinte sie nachdenklich, während sie abwesend eine Locke um den Finger wickelte. »Ich werde eine nette Summe daran verdienen. Der Preis, den ich für den Tisch gezahlt habe, lag weit unter seinem Wert.«
Victor strich mit der Fingerspitze über die Tischplatte. Sie war glatt und makellos. Seine Mutter besaß einen ähnlichen Tisch. Da er ihn ihr geschenkt hatte, wusste er, was solch ein Stück kostete. Er konnte auch zwischen der Arbeit eines Amateurs und der eines Fachmannes unterscheiden. Und was er hier sah, war die Arbeit eines Experten. »Deine Arbeitszeit ist schließlich auch etwas wert. Und dein Talent ebenfalls«, bemerkte er. »Es hätte dich einiges gekostet, wenn du den Tisch zum Aufarbeiten weggegeben hättest.«
»Ich weiß. Aber diese Arbeit macht mir Freude, und deshalb zählt sie nicht.«
Victor hob die Brauen. »Du willst doch Geld mit deinem Laden verdienen, oder?«
»Ja, natürlich.« Sharon verschloss die Dose mit dem Wachs.
»Du wirst nicht viel Geld verdienen, wenn du deine Zeit und deine Arbeitskraft außer Acht lässt.«
»Ich brauche nicht viel Geld.« Sie stellte die Dose auf ein Regal und besah sich einen Stuhl, der neues Sitzgeflecht brauchte. »Ich muss meine Rechnungen bezahlen und meinen Laden bestücken, und wenn mir dann noch ein bisschen Geld zum Leben bleibt, bin ich zufrieden. Ich wüsste gar nicht, was ich mit viel Geld anfangen sollte.«
»Du würdest es schon für irgendetwas ausgeben«, meinte Victor trocken. »Für Pelze und Kleidung zum Beispiel.«
Sharon blickte auf. Als sie sah, dass er es ernst meinte, brach sie in lautes Gelächter aus. »Pelze? Oh ja, ich kann mir lebhaft vorstellen, wie ich in einem Nerz in Donnas Kramladen marschiere und einen Liter Milch kaufe. Victor, du bist wirklich zum Totlachen.«
»Mir ist noch keine Frau begegnet, die sich nicht über einen Nerz gefreut hätte«, gab er zurück.
»Dann hast du eben die falschen Frauen gekannt«, bemerkte sie.
»Und was für eine Frau bist du?«
Sharon, die mit ihren Gedanken schon längst wieder bei ihrer Arbeit gewesen war, blickte ihn erneut an. Als sie Victors zynischen Gesichtsausdruck sah, seufzte sie tief. »Oh Victor, warum musst du nur immer nach Komplikationen suchen?«
»Weil es ständig welche gibt.«
Sharon schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts zu verbergen. Ich bin so, wie du mich siehst. Vielleicht ist dir das zu einfach, aber es ist die Wahrheit.«
»Willst du mir weismachen, dass du zufrieden
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