Das schönste Wort der Welt
Serben hatten den Saal verlassen. Er war erschöpft und
deprimiert.
»Šteta.«
Ich drehte mich um.
»Was ist schade?«
Er zuckte mit den
Schultern. »Ništa«, nichts.
»Wollt ihr wirklich
wieder weg?«
Ich nickte.
Er schloss die Augen,
und ich ließ ihn eine Weile schlafen. Er schnarchte laut. Als ich mich zu ihm
beugte und ihn weckte, roch ich seine Schnapsfahne, offenbar hatte er sich mit
dem Amerikaner volllaufen lassen. Er sah mich mit einem sonderbaren Blick an,
wie ein verirrtes Kind, das einen Alptraum hatte und seine Mutter nicht mehr
vom schwarzen Mann unterscheiden kann.
Er umfasst meinen
Nacken und streichelt mir die Wange.
»Meine Liebe …«
»Du bist ja
betrunken, geh nach Hause.«
Er zieht seine
Brieftasche aus der Jacke und kramt in einem Fach voller Zettel. Dann liest er
mir ein Gedicht vor.
Meine
Schwester schläft, schade.
Ihre
Hände wachsen
weit
von mir entfernt
während
der Tag krepiert.
Morgen
nehme ich sie zum Eislaufen mit
sie
wird in der Vase-Miskina-Straße
vor dem
Schaufenster mit dem Computer
den sie
gerade eingeschaltet haben
stehenbleiben.
Sie
glaubt an die Zukunft, meine Schwester,
schade.
Ich lächle, nicke.
»Du findest es
abscheulich?«
Ich breite die Arme
aus, soll er doch denken, was er will. Er hat eine unmögliche Art, er ist jung,
fängt jedoch an, schlecht zu altern.
»Wünscht sich Sebina
denn einen Computer?«
Gojko dreht sich um.
»Ich bin gekommen, weil
ich euch zu einem Konzert einladen will.«
Es ist die
Jahresabschlussveranstaltung der Musikschule von Sarajevo, er möchte mir ein
Mädchen vorstellen.
»Ich habe ihr von dir
erzählt.«
Ich packe gerade den
Föhn in den Koffer. Abrupt halte ich inne.
»Und was hast du ihr
erzählt?«
Er macht einen
Schritt auf mich zu und legt mir seine Hand auf den Bauch, tief unten. Dort
verharrt sie reglos, ich spüre ihre Wärme, sie ist ein freundliches Feuer, das
mir durch und durch geht. Ich schwitze. Er zieht sich nicht zurück, bleibt, wo
er ist, mit dieser schamlosen Hand kurz über meiner Leiste. Ich atme tief ein
und verjage ihn nicht, und vielleicht verlangt es mich plötzlich nach ihm, weil
an ihm etwas ist, was auch zu mir gehört, eine Niederlage, eine Einsamkeit, die
ich nicht mehr mit Diego teile. Ich atme tief ein, und mein Atem gleitet in
meinen Bauch, unter diese feste, glühende, drängende Hand.
Diego kommt mit dem
Gesicht eines Nachtkaters zurück.
»Was macht ihr zwei
denn da?«
Gojko rührt sich
nicht, er scheint tot zu sein. Ich verpasse ihm einen leichten Tritt.
»Ich bin betrunken«,
sagt er und geht.
Ich sehe ihm vom
Fenster aus nach, während er auf der dunklen Straße verschwindet. Diego
betrachtet meinen Kopf und meine Hand, die den kleinen, bestickten Vorhang hält.
»Ist er dir an die
Wäsche gegangen?«
»Nein, er hat uns zu
einem Konzert eingeladen.«
So gehen wir also in
die Musikschule. Es ist ein Schlechtwetternachmittag, das Wasser läuft in
Strömen die Straßen hinunter. Ich warte darauf, dass das Konzert anfängt, und
stelle so lange abwechselnd einen meiner nassen Füße auf die gusseiserne Heizung.
Rings um uns her Frauen mit bäurischen Gummischuhen oder mit Sommersandalen und
langen Abendkleidern, die unten nass sind. Eine stämmige Frau mit einer
Trillerpfeife um den Hals kümmert sich um Stühle. Es ist ein kleines
kulturelles Ereignis, das den Anwesenden offenbar viel bedeutet. Das laute
Stimmengewirr klingt ängstlich und brav, und auch die klägliche Exzentrik der
Festgarderoben hat einen ganz eigenen Charme. Ich muss an Rom denken, an die
gemischte Gesellschaft, die die sogenannten events bevölkert, Frauen in
millionenschweren Fummeln, Diskotheken-Intellektuelle, Politiker, Leute ohne
Reinheit, das war unser Zeitgeist ,
den die Werbetexter im Munde führten.
Viele müssen stehen,
beschweren sich aber nicht, sie lehnen sich nicht einmal an die Wand. Es ist
heiß im Raum und ich fächle mit dem Programmheft. Die Musiker auf dem Holzpodest
wechseln sich ab, es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Alle sind jung, die
Mädchen in schwarzen Kleidern, die extra zu diesem Anlass aufgestylt wurden,
die Jungen mit Fliege. Sie bedanken sich, stehen hinter ihren Instrumenten auf
und neigen den Kopf. Die zweite Gruppe kommt herein, dann die dritte. Ich kann
nicht mehr. Gojko berührt mein Knie und zeigt auf die Bläser.
Sie ist die größte in
der Gruppe, ihr Gesicht ist weiß, ihr Lippenstift zu dunkel, die Haare rot wie
Rost. Sie ist noch nicht an
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